Ernst Kris: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 28. August 2025, 09:39 Uhr

Der Wiener Psychoanalytiker und Kunsthistoriker Ernst Kris (1900–1957) war während der Zwischenkriegszeit ein führendes Mitglied im Kreis um Sigmund Freud und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem bekannten Psychologen in den USA. Kris war maßgeblich am Entstehungsprozess der Ich-Psychologie beteiligt. Nach dem Krieg brachte er als einer der Gründer des Yale Child Studies Center die Entwicklung der Kinderpsychologie voran. Sein grundlegendes theoretisches Konzept der „Regression im Dienste des Ich“ stellte sowohl für die Psychoanalyse als auch für die Kreativitätsforschung einen bedeutsamen Beitrag dar. Kris‘ beruflicher Werdegang war von mehreren prägenden Wendungen gekennzeichnet: von der Deutung von Kunstwerken zur Erforschung von Massenkultur, vom Museumskurator zum praktizierenden Psychoanalytiker, und vom Psychologen zum Politikanalysten. An jedem dieser Wendepunkte spielten die französische Kultur und die französische Politik eine entscheidende Rolle.

Zu Kris‘ ersten Untersuchungsgegenständen im Bereich der Psychologie der Kunst zählte das Werk von Bernard Palissy, einem französischen Kunsthandwerker des 16. Jahrhunderts. Während seiner Tätigkeit als Kurator in der Abteilung für Plastik und Kunstgewerbe des Kunsthistorischen Museums in Wien ergriff Kris bei der Organisation von Ausstellungen die Gelegenheit, französische karikaturartige Skulpturen zu zeigen. Nach der Außerkraftsetzung des österreichischen Parlaments und der Unterdrückung der politischen Opposition durch die Christlichsoziale Partei Österreichs unterstützte Kris jüdische Wissenschaftler*innen dabei, Zuflucht in Großbritannien zu finden. Zugleich trug er die Botschaft des französischen Republikanismus nach Österreich, indem er eine umfangreiche Ausstellung der Drucke, Skulpturen, Zeichnungen und Karikaturen von Honoré Daumier organisierte. Bald nach der Annektierung Österreichs durch Nazi-Deutschland verließ Kris Wien, jedoch erst nachdem er sich vergewissert hatte, dass Freud außerhalb Österreichs in Sicherheit war. Kris emigrierte zunächst nach London und später nach New York, wo er sich als Analyst deutscher Radiopropaganda den Kriegsanstrengungen der Alliierten anschloss. Sowohl in Österreich als auch später in Großbritannien und den USA blieb Daumier für Kris stets ein Vorbild für den Widerstand gegen den kulturellen und sozialen Einfluss von Propaganda und die Bewahrung eines kritischen Geistes sowohl in der Kunst als auch in der Politik.

Biografie

Von 1919 bis 1922 besuchte Kris die Universität Wien, wo er gemeinsam mit den Kunsthistorikern der Wiener Schule studierte und von Julius von Schlosser betreut wurde. Sein Interesse an der Kunst war früh durch seine Cousine Betty Kurth geweckt worden, die neben Studien zu französischen, deutschen und flämischen Wandteppichen auch einen Führer zum Schloss Schönbrunn veröffentlicht hatte, in dem sie auf den Einfluss von Versailles auf die Kunstwerke und Architektur des Schlosses einging. Direkt nach seinem Abschluss trat Kris die Nachfolge von Schlossers als Kurator der Abteilung für Plastik und Kunstgewerbe am Wiener Kunsthistorischen Museum an. Kris‘ Interesse an der angewandten Kunst war jedoch nicht nur auf die Lehren der Wiener Schule zurückzuführen, sondern auch auf den Einfluss Aby Warburgs[1], dessen Untersuchungen zur Psychologie der Produktion und Gestaltung von Bildern richtungsweisend für Kris‘ Forschung waren.

Im Jahr 1926 veröffentlichte Kris seine Dissertation über Metallarbeiten der Spätrenaissance, die er jedoch ausweitete, um die Werke von Bernard Palissy mit einzubeziehen. Seine Interpretation von Palissy bekundete sowohl Kris‘ frühes Interesse an der populären Produktion und Gestaltung von Bildern als auch seine Hinwendung zur Kunstpsychologie. Palissys Naturabgüsse wiesen auf eine zentrale Problemstellung der Kunst hin, nämlich wie die psychologische Illusion von Lebendigkeit erzeugt werden konnte. Kris stellte eine Verbindung zwischen künstlerischen Schöpfungen und Totenmasken her.[2] In seiner Studie von 1934 zur Künstlerlegende setzte sich Kris in einem weiteren Zusammenhang mit der Beziehung zwischen Kunstwerk und Illusion auseinander. [3] In volkstümlichen Legenden wurde Künstlern die magische Fähigkeit zugeschrieben, unbelebten Objekten Leben einhauchen zu können. Kris zufolge trug diese Assoziation zwischen Magie und dem künstlerischen Schaffen eines lebensechten Abbilds einen wesentlichen Anteil zur psychologischen Signifikanz der Bildproduktion bei, sowohl auf Seiten des Künstlers als auch auf Seiten des Publikums.

Während der 1920er Jahre wurde Kris als Psychoanalytiker tätig, während er zugleich weiterhin seiner Anstellung als Museumskurator nachging. Seine Ehefrau, die Wiener Psychoanalytikerin Marianne Kris, machte ihn mit Freud bekannt. In den 1930ern wurde Kris Redakteur des interdisziplinären psychoanalytischen Wiener Journals Imago und widmete sich verstärkt dem Themenbereich der Kreativität im Allgemeinen und Fragestellungen in Bezug auf die Karikatur im Besonderen. Im Jahr 1933 organisierte er beispielsweise als Kurator der Abteilung für Plastik und Kunstgewerbe am Wiener Kunsthistorischen Museum eine kleine Ausstellung der Karikaturbüsten des französischen Künstlers Jean-Pierre Dantan[4]. Im darauffolgenden Jahr wandte er sich der Karikatur als zentralem Sujet zur Ergründung der Psychologie der Kreativität zu. In seinem bahnbrechenden Essay von 1934 zur Psychologie der Karikatur stellte Kris seine Theorie der „Regression im Dienste des Ich“ vor.[5] Kreativität sei demzufolge nicht einfach ein Produkt unbewusster ursprünglicher Prozesse und Instinkte, sondern entstehe durch unabhängige Handlungsimpulse und Ziele des „Ich“. Im schöpferischen Vorgang erlaubte der Rückschritt dem „Ich“ Zugriff auf unbewusste Quellen von Gedanken und Gefühlen. Zugleich stellte das „Ich“ über diese Regression die Möglichkeit künstlerischer Freiheit und sozialer Kommunikation her. Anhand des Beispiels der Karikatur demonstrierte Kris, dass die Bedeutsamkeit von Kunst nicht nur in ihrem ästhetischen Wert lag, sondern auch in der Entwicklung der Eigenständigkeit des „Ich“ und der Ausweitung der Verbindung des „Ich“ zur Gesellschaft.

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Essays zur Karikatur war die politische Situation bereits zu einem zentralen Anliegen für Kris geworden. Er zählte zum jüdischen Bürgertum Wiens. Als junger Mann war er zum Katholizismus konvertiert, doch er bezog seine spätere Identität nicht auf diesen Glaubenswechsel und war sich dessen bewusst, dass ihm der Übertritt keinen Schutz bieten würde. Im Jahr 1933 löste die regierende Christlichsoziale Partei das Parlament auf. 1934 verbot sie die oppositionelle sozialdemokratische Partei. Jüdischen Bürger*innen wurde die Aufnahme in den öffentlichen Dienst verweigert. Der Zusammenbruch der österreichischen Republik, die zunehmende Verbreitung von Antisemitismus in Wien und die Ausdehnung des Nationalsozialismus von Deutschland nach Österreich führten dazu, dass Kris als Ansprechpartner für den britischen Academic Assistance Council tätig wurde. Mithilfe seiner Position am Museum und seiner Zusammenarbeit mit dem AAC unterstützte er jüdische Wissenschaftler*innen und Lehrkräfte dabei, Zuflucht außerhalb Österreichs zu finden.

Einer dieser Wissenschaftler, dem Kris zur Flucht verhalf, war sein Freund und Kollege E. H. Gombrich. Auf Kris‘ Drängen hin stellte Fritz Saxl[6], der Leiter des Warburg Instituts in London, Gombrich ein Stipendium zur Verfügung. Unter Gombrichs Mitwirkung nahm Kris die Arbeit an einem umfassenden Forschungsprojekt zur Kunst, Psychologie und Politik der Karikatur auf. Im Mai 1937 präsentierte er erste Forschungsergebnisse des Projektes bei einem Vortrag am Warburg Institut. Gombrich und Kris weiteten die Ausführungen zu einem gemeinsamen Artikel zur Geschichte der Karikatur aus, den sie in Großbritannien publizierten.[7] Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs veröffentlichten sie eine entsprechende Broschüre.[8] Ihr bedeutendstes Werk zur Karikatur war jedoch die unveröffentlichte Monographie, die sie im November 1937 fertigstellten und schlicht Karikatur betitelten.[9] In diesem Manuskript trat Daumier als zentrale historische Figur hervor.

Der Einfluss von Honoré Daumiers Werk

Wie Kris ausführte, entstand die Karikatur während der Renaissance als eine alternative Form der Porträtmalerei. In Italien verzerrten Karikaturisten visuelle Abbilder und überspitzten die Darstellung physischer Attribute, um darüber den inneren Charakter ihrer Subjekte zu offenbaren. Diese verdeckte und regressive Freisetzung von Aggression stellte sich in den Dienst der Erschaffung eines authentischen und kontrollierten psychologischen Porträts. Bei der Darstellung von Personen des öffentlichen Lebens im Großbritannien des 18. Jahrhunderts diente die Technik der Karikatur dem Zweck des politischen Kommentars. In Frankreich und im Werk Daumiers erreichte die Karikatur die vollständige Vereinigung ihrer künstlerischen, psychologischen und politischen Komponenten. Wie es zuvor bereits Balzac in La Comédie humaine getan hatte, verband auch Daumier psychologische Aspekte des Porträtierens mit sozialem Realismus.[10] Daumier reduzierte Kunst weder auf politische Botschaften, noch behandelte er Politik als ein Bestreben von weniger Wert als das künstlerische Schaffen. Stattdessen waren sowohl Kunst als auch Politik gemeinsame Teile eines breiteren Geists von kultureller Kritik, intellektuellem Widerspruch und sozialem Protest. Daumier trieb die Karikatur auf den Höhepunkt ihrer Entwicklung, indem er sie zu einer republikanischen Kunstform umwandelte. Nach Daumier gerieten die künstlerischen, psychologischen und politischen Elemente der Karikatur ins Bröckeln und ihre bisherigen kreativen und kritischen Funktionen traten zunehmend außer Kraft. Im Bereich der Kunst übernahmen die Expressionisten die Techniken der Karikatur in die Malerei. Im Bereich der Wirtschaft nutzten Werbetreibende die Karikatur als psychologisches Instrument, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu erlangen. In der Politik setzten Nationalpropagandisten die Karikatur dafür ein, um Angst und Schrecken zu verbreiten und Gewaltbereitschaft zu schüren.

In Wien wurde Daumier nach dem Ende der Österreichischen Republik zu einer Schlüsselfigur für Kris. Daumier lieferte eine Antwort auf die Frage, die sich Kris in seinen Untersuchungen zu Palissy gestellt hatte: Der Zugriff der Kunst auf die Realität bestand nicht im illusorischen Abbild der Natur, sondern war Teil der Kultur des französischen Republikanismus. Während seiner Arbeit am Manuskript zur Karikatur demonstrierte Kris die Bedeutsamkeit von Daumiers Kunst für sich selbst und für Österreich durch die Organisation der Daumier-Ausstellung im Jahr 1936. Es handelte sich zu dieser Zeit um die größte Ausstellung von Daumiers Werk in Europa.

Sie fand während der Hochphase der Regierung durch die Front populaire in Frankreich statt, die von Mai 1936 bis Juni 1937 unter Léon Blums[11] Führung bestand. Im August 1937 wurde Kris die Légion d’Honneur verliehen. Der Zeitpunkt dieser Auszeichnung legte nahe, dass sie unter Blums Regierung initiiert worden war. Kris hatte nicht nur für die Organisation der Daumier-Ausstellung mit Wissenschaftler*innen und Beamt*innen in Paris zusammengearbeitet, sondern hatte während der 1930er-Jahre auch an Seminaren zu akademischen und literarischen Themen teilgenommen, die im Kloster von Pontigny in Frankreich abgehalten wurden. Dort entstand eine langlebige Freundschaft mit dem französischen Autor und Sozialisten Roger Martin du Gard. Pontigny war ein Treffpunkt für Wissenschaftler und Schriftsteller, um gemeinsam Gegenstände wie unter anderem neue psychologische Forschung zu diskutieren. Das Thema der Konferenz von 1937 war beispielsweise „the social vocation of art in epochs of mental confusion and of despair.“[12] Kris referierte im Rahmen dieses Treffens über Antisemitismus in Österreich. Gombrich hielt in seinen Erinnerungen fest, dass Kris die Légion d’Honneur zum Teil auch als Schutzvorrichtung betrachtete. Das politische Modell der Front Populaire war für Kris von ebenso großer Bedeutung wie die Auszeichnung selbst. Wie für zahlreiche Angehörige des jüdischen Mittelstands in Wien war das politische Ideal auch für Kris lange Zeit die liberale Monarchie gewesen. Der Antifaschismus führte ihn hin zum Republikanismus. Die Daumier-Ausstellung stand im Zeichen des Gipfels dieser radikalen Wende.

Die Daumier-Ausstellung bildete den Auftakt für Kris‘ Beteiligung an den Kriegsanstrengungen der Alliierten. Nach dem „Anschluss“ 1938 emigrierte er nach London. Dort machte er 1939 von seinem doppelten Hintergrund in Psychologie und Kunstgeschichte Gebrauch, um Analysen für den BBC Monitoring Service durchzuführen. Gombrich folgte ihm wenig später zur BBC. Beide Wissenschaftler nahmen im Verlauf des Krieges detaillierte Analysen des deutschen Hörfunks vor. Im Jahr 1940 ließ sich Kris schlussendlich in den USA nieder, wo er seine Forschung zur deutschen Propaganda mit Unterstützung der Rockefeller Foundation der New Yorker New School for Social Research weiterführte.

Während des zweiten Weltkriegs hielt Kris einen Vortrag am Dayton Kunstinstitut in Ohio, in dem er ausdrücklich auf die Haltung des Protests hinwies, die sich von den Drucken des französischen Künstlers Jacques Callot[13] im 17. Jahrhundert durch Daumiers republikanische Kunst des 19. Jahrhunderts bis hin zur antifaschistischen Kunst des 20. Jahrhunderts zog. Angesichts der „horrors of war“, so Kris, hätten Callot und Daumier „the torch of higher convictions and human ideals” am Leben erhalten; eine Fackel, die Pablo Picasso bekanntermaßen in seinem Gemälde Guernica bei der Weltausstellung in Paris von 1937 darstellte, wo sie dem Faschismus entgegengehalten wurde.[14] Die Daumier-Ausstellung 1936 in Wien und die Weltausstellung in Paris 1937 stellten zwei intellektuelle und politische Meilensteile im Karriereverlauf von Ernst Kris dar. Sie setzten zudem bedeutsame Zeichen in der Geschichte des republikanischen Austauschs zwischen Österreich und Frankreich.

Quellen und externe Links

Bibliografie

  • Kris, Ernst: Der Stil “rustique”: Die Verwendung des Naturabgusses bei Wenzel Jamnitzer und Bernard Palissy, Sonderausdruck aus Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen in Wien, Neue Folge, Band I. Wien: Verlag von Anton Schroll 1926.
  • Kris, Ernst und Kurz, Otto: Die Legende vom Künstler: Ein geschichtlicher Versuch. Wien: Krystall-Verlag 1934.
  • Kris, Ernst: “Zur Psychologie der Karikatur,“ In: Imago 20, no. 4 (1934).
  • Kris, Ernst “Honoré Daumier” (1936). In Honoré Daumier, Ausstellung, 21. November-21. Dezember 1936.
  • Kris, Ernst: “The Imagery of War”. In: The Dayton Art Institute Bulletin XV, no. 1 (Oktober 1942).
  • Kris, Ernst und Gombrich, E.H., “The Principles of Caricature.” In: British Journal of Medical Psychology XVII (1938).
  • Kris, Ernst und Gombrich, E.H., Caricature. Harmondsworth: Penguin Books 1940.
  • McLeod, Enid: Living Twice: Memoirs. London: Hutchinson Benham 1982.
  • Rose, Louis: Psychology, Art, and Antifascism: Ernst Kris, E.H. Gombrich, and the Politics of Caricature. New Haven: Yale University Press 2016.

Autor

Louis Rose

Aus dem Englischen übersetzt von Hannah Puchelt

Onlinestellung: 28/08/2025