Siegfried Trebitsch

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Siegfried Trebitsch, env. 1902

Heute in der Literaturgeschichte fast vergessen, war Siegfried Trebitsch (*22. Dezember 1868 in Wien, † 3. Juni 1956 in Zürich) zu seiner Zeit ein wichtiger Akteur des Kulturtransfers zwischen den deutsch-, englisch- und französischsprachigen Ländern.

Biografie

Siegfried Trebitsch, ein österreichischer Dramatiker, Lyriker und Prosaschriftsteller, machte sich zunächst als Übersetzer einen Namen: Durch seine Übersetzungen machte Trebitsch, der schon früh Unterricht in Englisch und vor allem Französisch genommen hatte[1], die deutschsprachigen Leser*innen mit den Werken französischer Autoren seiner Zeit bekannt, insbesondere mit den Werken Georges Courtelines sowie mit den Werken des irischen Dramatikers George Bernhard Shaw (Nobelpreis für Literatur 1925), mit dem er einen langen und umfangreichen Briefwechsel führte. Für seine Förderung der französischen Kultur im deutschsprachigen Raum wurde Trebitsch am 7. September 1939 sogar die französische Staatsbürgerschaft verliehen[2]. Als Jude war er ein Jahr zuvor gezwungen worden, Wien nach dem Anschluss zu verlassen und nach Paris zu ziehen, wo er sich bis 1940 aufhielt, bevor er nach Zürich zog, wo er schließlich bis zu seinem Tod im Jahr 1956 bleiben sollte.

Während eines Aufenthalts in Bagnères-de-Luchon freundeten sich Courteline und sein späterer Übersetzer Siegfried Trebitsch an, der fortan als „Bannerträger des Courteline’schen Humors in den deutschsprachigen Ländern[3]“ fungierte, indem er Courtelines Stücke ins Deutsche übersetzte und in Österreich und Deutschland aufführen ließ: So erzielte Boubouroche bereits Anfang 1900 Erfolg in Wien[4].

In seiner Autobiografie Chronik eines Lebens (1951), die viel über die Kulturgeschichte der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aussagt, beschreibt Trebitsch seine allererste Begegnung mit Courteline bei einer Sommeraufführung von Courtelines erstem Theaterstück Boubouroche (1893) in Bagnères-de-Luchon. Mit „Begeisterung“ und „Bewunderung“ wohnte Trebitsch der Aufführung „eines kleinen Meisterwerks“ bei[5]. Schon hier unterstreicht Trebitsch den herausragenden Platz, den er Courteline in seinem Theaterpantheon einräumt, in dem er einen „Nachfahre[n] von Molière[6]“ sieht – eine emphatische Formulierung, die er in seiner Autobiografie wiederholt: „Der Geist Molières schwebt unverkennbar über seinem Theater.[7]“. Diese Stelle findet sich auch im Vorwort zu seiner Übersetzung von Courtelines Alltagskomödien bei Georg Müller im Jahr 1912. An diesem Abend schlug Trebitsch Courteline vor, Boubouroche ins Deutsche zu übersetzen, da er davon überzeugt war, dass das Stück wenn nicht den „Deutschen“, so doch seinen „Landsleute[n], d[en] Wiener[n][8]“, behagen würde. Dieser Abend markiert auf jeden Fall den „Beginn einer Freundschaft[9]“, die erst mit Courtelines Tod einige Jahrzehnte später enden sollte. Es folgen aufschlussreiche Zeilen über den ersten Vertrag zwischen den beiden Männern, der in Paris unterzeichnet wurde, sowie über die ersten „Schwierigkeiten“, auf die Trebitsch bei der Übersetzung von Boubouroche stieß und die er auf die „urfranzösisch[e]“, „so sehr gallisch[e][10]“ Dimension von Courtelines Dialogen und Sprache zurückführte; hinzu kommen interessante, leider undatierte Hinweise auf die frühe Rezeption von Boubouroche auf deutschsprachigen Bühnen: Zunächst im Wiener Raimundtheater, wo das Stück einen gewissen Erfolg hatte[11], der auch von den zeitgenössischen Kritikern attestiert ist und im Gegensatz zum relativen Misserfolg stand, den das Stück kurz darauf am Berliner Residenztheater erzielte; und wenn Trebitsch schließlich daran erinnert, dass Boubouroche Jahre später sogar am Burgtheater mit den Hauptdarstellern Rosa Betty und Otto Tressler zu Ehren kam[12], muss er doch „d[as] erste[…] bescheidene[…] Gelingen [Courtelines] im deutschen Sprachgebiet[13]“ zugeben. Mit dieser Übersetzung begann Trebitsch seine doppelte Karriere als Übersetzer und Literaturagent zu Gunsten Courtelines einerseits, zu Gunsten Shaws andererseits.

Was Trebitschs Übersetzungen von Courtelines Stücken anbelangt, so sind sie in dem kleinen Band Boubouroche (122 S.), der 1901 im Wiener Verlag erschien und der Bühnenfassung entspricht, und in dem opulenteren Band Alltagskomödien (367 S.), der 1912 bei Georg Müller in München erschien, zu finden. In seiner kurzen Einleitung zu diesem zweiten Band erinnert Trebitsch zwar an Courtelines beißende Satire auf Militärs und Beamte, gibt aber keinen einzigen Hinweis auf seine Übersetzungsentscheidungen oder -methoden.

Trebitschs Courteline-Übersetzungen zeugen deutlich von dem Interesse, aber auch von den Schwierigkeiten, die es mit sich bringt, die Vielfalt von Courtelines Sprache im Deutschen zu rekonstruieren. Während in Boubouroche die Sprache der Kartenspieler eine zentrale und strukturierende Rolle in der Ausstellungsszene spielt, die mit polysemen Variationen und Wortspielen gespickt ist, verschwindet diese Szene bei Trebitsch ganz. Seine Übersetzungen aus den Jahren 1901 und 1912 weisen daher im Vergleich zu Courtelines Text ein deutliches Komikdefizit auf – wie im Falle der „sprechenden“ Namen mit burlesker Wirkung, die Courteline häufig verwendet und die Trebitsch seinerseits nicht übersetzt. Trebitsch gelingt es zwar, die Gesamtatmosphäre der Dialoge Courtelines wiederherzustellen – wobei er hie und da ärgerliche Übersetzungsfehler begeht –, doch seine Übersetzungen vernachlässigen weitgehend Courtelines charakteristisches Spiel mit Sprachebenen und -klängen. Eigentlich scheint es quasi unmöglich, aus Trebitschs Courteline-Übersetzungen überzeugende Schlüsse zu ziehen, da das Spektrum der Übersetzungen je nach Stück von einer wörtlichen, fast schulmäßigen Übersetzung bis hin zu einer sehr freien Adaption reicht, welche jedoch als die deutlichste Komponente seiner Übertragungen hervorsticht.

So nimmt Trebitsch in Boubouroche etliche Ergänzungen vor, um die gleichnamige Figur zu charakterisieren bzw. sie bereits sozial als Vertreter des Volkes zu verorten: Aus dem einfachen „Boubouroche“ in der ersten Bühnenanweisung von Courtelines Stück wird bei Trebitsch Boubouroche „eine Art behäbiger Koloss mit breitem Vollmondgesicht[14]“, wobei Trebitsch von Anfang an die Körperfülle und Ungeheuerlichkeit der Figur hervorhebt. Andererseits streicht Trebitsch die ganze Expositionsszene von Boubouroche und einen Teil der zweiten Szene der einaktigen Komödie Un client sérieux (1896), wodurch die volkstümliche, ja slangartige Sprache der Figur Lagoupille verloren geht[15].

Wenn Trebitschs Übersetzungspraxis je nach Stück zwischen wörtlicher Übersetzung und „belle infidèle“ (auch bei der Übersetzung der Titel) stark variiert, kann man nur feststellen, dass Trebitsch von einer Übersetzung zur anderen ebenso stark zwischen „domestication“ und „foreignization[16]“ des Ausgangstextes schwankt.

Was die Bearbeitungsverfahren von Courtelines Stücken angeht, so streicht Trebitsch die verschiedenen kulturellen Referenzen, die in Courtelines Texten vorkommen, indem er zum Beispiel eine Anspielung auf die Zeitung Le Temps in der einleitenden Bühnenanweisung von Boubouroche durch „eine Zeitung“ ersetzt. Wenn Courtelines Verweise auf die französische Kultur häufiger werden, lässt Trebitsch sie in seiner Übersetzung schlichtweg aus: So streicht Trebitsch zu Beginn seiner Übersetzung von Courtelines vorletztem Stück Mentons bleus (1906) unter dem Titel Mimensiege[17] die zahlreichen Anspielungen auf das französische Theater (Bajazet, Madame Sans-Gêne, Victorien Sardou, Sarah Bernhardt, Frédérick Lemaître) und komprimiert Courtelines Text radikal: Die langen vier Seiten von Rapétaux werden bei Trebitsch auf nur neun Zeilen gekürzt. Und um die Distanz zwischen Courtelines Stücken und der deutschsprachigen Kultur zu verdeutlichen, siedelt Trebitsch sie systematisch in einer zeitgenössischen französischen Umgebung, meist in Paris, an, während dieses Element bei Courteline nur sehr selten erwähnt wird: „Ort der Handlung: Paris. Zeit: Gegenwart“ (Ebd.: 11, 63, 131, 163, 231, 253, 279, 293, 325).

Zusammenfassend sind Trebitschs Übersetzungen von Courtelines Stücken schwer zu verorten, weil sie andauernd zwischen „cibliste“ und „sourcier[18]“ schwanken. Nichtsdestotrotz hat Trebitsch eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Förderung von Courtelines Werken in den deutschsprachigen Ländern, insbesondere in Österreich, gespielt. Dieser Eintrag versteht sich auch als eine Anregung zu einer noch ausstehenden Studie über die Bühnenrezeption von Courteline und den französischen Komödienautoren in den deutschsprachigen Ländern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Quellen und externe Links

  1. Knoll 1992: 18
  2. Ebd.: 23
  3. Haymann 1990: 163
  4. Ebd.
  5. Trebitsch 1951: 93
  6. Ebd.: 94
  7. Ebd.: 134
  8. Ebd.: 95
  9. Ebd.: 96
  10. Ebd.: 97
  11. Knoll 1992: 20
  12. Trebitsch 1951: 98
  13. Ebd.
  14. Courteline 1901: 3; 1912: 13
  15. Courteline 1990, 2009: 55
  16. Venuti 1995
  17. Courteline 1912: 161–186
  18. Ladmiral 2015

Bibliografie

Primärliteratur

  • Courteline, Georges: Théâtre, contes, romans et nouvelles, philosophie, écrits divers et fragments retrouvés. Paris: Robert Laffont 1990, 2009.
  • Courteline, Georges: Boubouroche (Boubouroche – Der Herr Commissär – Sein Geldbrief – Monsieur Badin), autorisierte Übersetzung aus dem Französischen von Siegfried Trebitsch. Wien: Wiener Verlag 1901.
  • Courteline, Georges: Alltagskomödien, deutsch von Siegfried Trebitsch. München: Georg Müller 1912.
  • Trebitsch, Siegfried: Chronik eines Lebens. Zurich u.a.: Artemis-Verlag 1951.

Sekundärliteratur

  • Haymann, Emmanuel: Courteline. Paris: Flammarion 1990.
  • Knoll, Elisabeth: Produktive Missverständnisse. George Bernard Shaw und sein deutscher Übersetzer Siegfried Trebitsch. Heidelberg: Winter 1992.

L*admiral, Jean-René: Sourcier ou cibliste. Les profondeurs de la traduction. Paris: Les Belles Lettres 2015.

  • Venuti, Lawrence: The Translator’s Invisibility. New York: Routledge 1995.

Autor

Marc Lacheny

Onlinestellung: 24/01/2025