Henri-René Lenormand

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Henri-René Lenormand

Seit dem 2. Weltkrieg zunehmend in Vergessenheit geraten, zählt Henri-René Lenormand (* 3. Mai 1882, Paris,† 16. Februar 1951, Paris) in der Zwischenkriegszeit zu den bedeutenden französischen Theaterautoren. Dank der Vermittlertätigkeit von Berta Zuckerkandl stehen in den 1920er und 30er Jahren mehrere seiner Stücke auf den Spielplänen von Wiener Theatern und verzeichnen beachtliche Erfolge. Diese sind zum Teil wohl auf den psychologisierenden Inhalt seiner Werke und auf seine Nähe zu Freud zurückzuführen.

Das Werk

Henri-René Lenormand ist der Sohn des Komponisten und Musikpädagogen René Lenormand (1846-1932) ; nach seinem Studium hat er sich im wesentlichen als Schriftsteller und Autor von Theaterstücken betätigt. Von 1909 bis zu seinem Tode war er mit der in Amsterdam geborenen, in Paris wirkenden Schauspielerin Marie Kalff[1] (1874-1959) verheiratet. Sein dramatisches Werk steht unter dem Einfluss von August Strindberg[2] und von Sigmund Freud, deren Arbeiten er in den Jahren 1916/17 während eines Sanatoriumsaufenthalts in Davos entdeckt hat. Sein Interesse für das Mysteriöse, das Übernatürliche, für den Spiritismus, den Mystizismus und die Psychoanalyse prägen sein Werk. Die von Lenormand bevorzugte Form des « Stationendramas » und formelle Experimente rücken es in die Nähe des Expressionismus. Es geht in seinen Stücken häufig um innere, emotionale Konflikte, unterbewusste Impulse und tragische menschliche Schicksale. Mehrere seiner Stücke haben einen exotischen und kolonialen Hintergrund und spielen in Nordafrika (Au désert, 1910; Le Simoun, 1920; Le Mangeur de rêves, 1922), in Schwarzafrika (Terres chaudes, 1913; À l’ombre du mal, 1924; Terres de Satan, 1942), in Asien (La Grande Mort, 1909; Asie, 1931), im Indischen Ozean (Le Réveil de l’instinct, 1908; Mademoiselle de Coriolis, 1952) und in Ozeanien (Pacifique, 1937). Seinem Werk gewidmete literaturkritische Arbeiten beziehen sich oft auf diese Aspekte[3].

In Frankreich sind seine größten Erfolge in Zusammenarbeit mit zwei Regisseuren des « Cartel[4] » entstanden: Gaston Baty[5] hat 1920 Le Simoun und 1926 L’Amour magicien (Magische Liebe) inszeniert, Georges Pitoëff Les Ratés (Die Namenlosen), zuerst 1919 in Genf, dann 1922 in Paris, wo er im selben Jahr auch Le mangeur de rêves (« Der Traumfresser »), ein Stück, das als Paradebeispiel für den Freudschen Einfluss gilt, auf die Bühne gebracht hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind die Aufführungen rar, die jüngsten Inszenierungen von Jean-Louis Benoît[6], Les Ratés (1995) und Le temps est un songe (2008) haben offenbar keine Lenormand-Renaissance bewirkt.

Dass Lenormands Werk nach 1945 weitgehend unbeachtet bleibt, mag auch mit seiner ambivalenten Haltung während des Zweiten Weltkriegs zusammenhängen. Zwar gilt er in den Dreißigerjahren als « Linksintellektueller » und Anhänger der « Front populaire », seine antirassistischen Theatestücke werden von der Vichy-Regierung zensuriert. Das hindert Lenormand nicht daran, während der Besatzung für regimetreue, kollaborationistische Blätter (Panorama, Comoedia, L’Œuvre, La Gerbe) zu schreiben und in denen wiederum ebenso für den Dialog mit den Machthabern wie für die « Freiheit der Kunst » und gegen den « puritanischen Terrorismus » (Comoedia, 15. November 1941) einzutreten. Dies dürfte auch der Grund dafür sein, dass sein Name in der am 21. Oktober 1944 veröffentlichten dritten Liste von künstlerischen Persönlichkeiten aufscheint, die sich mit dem Vichy-Regime kompromittiert haben[7]. Eine « zweite Karriere » ist ihm nicht mehr gegönnt, seine Rehabilitierung fällt fast gleichzeitig mit seinem Tod zusammen.

Wiener Lenormand-Aufführungen

Das erste in Wien aufgeführte Stück Lenormands ist Les Ratés. In der Inszenierung von Max Reinhardt hat das noch vom Naturalimus geprägte Werk über einen erfolglosen Theaterautor und eine armselige, durch Frankreich tingelnde Theatertruppe unter dem Titel Die Namenlosen am 20. Dezember 1922 am Deutschen Volkstheater Premiere. Mit dem « Don Juan-Stück » in 16 Bildern L’Homme et se fantômes (Stimmen aus dem Dunkeln), in der Inszenierung von Hans Brahm, findet Lenormand am 3. Jänner 1925 Eingang in das Repertoire des Burgtheaters. Es folgen Le Lâche (Der Feigling), inszeniert von Rudolf Beer[8], am 26. Mai 1928 am Deutschen Volkstheater, L’Amour magicien (Magische Liebe) am 22. März 1929 im Carl-Theater, als Produktion des Theaters in der Josefstadt, in der Regie von Iwan Schmith, und schließlich wieder am Burgtheater am 1. März 1933 Asie (Asien), inszeniert von Georg Terramare[9]. Die Übersetzungen stammen von Berta Zuckerkandl, die ersten drei der genannten Stücke sind 1930 im Zsolnay-Verlag (Berlin, Wien) herausgekommen.

Das Presseecho auf diese Inszenierungen ist jeweils beachtlich. Die meisten Besprechungen heben – in Wien verständlicherweise – die Freudschen Züge im Werk Lenormands hervor, sehen Bezüge zu Schnitzler und betonen seine Nähe zum Expressionismus.

In der Besprechung der Premiere der Namenlosen bemerkt der Rezensent der Neuen Freien Presse (P.W.) die epische Breite des Stücks und seine Nähe zum Naturalismus [10]. Arthur Schnitzler spricht in seinem Tagebuch (6. Dezember 1922) nach der Lekture des Stückes von einer « dramatischen Novellenform », bzw. einem « novellistischen Drama ».

A propos Stimmen aus dem Dunkel geht Raoul Auernheimer in der NFP (6. Januar 1925) von Lenormands Suche nach dem Unbekannten (und Unbewussten) aus, stellt das Stück in eine Reihe mehr oder weniger zeitgenössischer Bearbeitungen des Don-Juan-Stoffes und sieht, was den Aufbau des Stückes betrifft, eine Verbindung zwischen Lenormand, Schnitzler « und den Russen ». Seine Besprechung gipfelt in der Feststellung, dass Lenormand ein typisch französischer Schriftsteller sei, der aber « viel vom Ausland gelernt hat und von dem ebendarum auch das Ausland manches wird lernen können ».

Die Atmosphäre von Der Feigling, dessen Handlung in einem Schweizer Lungen-Sanatorium spielt, erinnert die Kritiker an Thomas Manns Zauberberg, allerdings « verdünnter und schematischer », die Stärke Lenormands liege in den « Echtheitszügen » seiner Figuren (Ernst Lothar[11] in der NFP vom 27. Mai 1928.

In seinen zweibändigen Confessions d’un auteur dramatique (Paris, 1949 und 1953, Wiederauflage 2016) zeigt sich Lenormand von den Wiener Aufführungen seiner Werke angetan und behauptet, in Wien von Theatermachern, Presse und Publikum besser behandelt worden zu sein als in Frankreich. Berta Zuckerkandl verdanke er « quelques-unes de plus belles heures de [sa] carrière[12] ». Seine eigenen Bemühungen, österreichischen Dramatikern französische Bühnen zu öffnen (in Schnitzlers Tagebuch und Korrespondenz ist von einer Bearbeitung von Das weite Land für das Théâtre de l’Odéon die Rede), scheinen dagegen erfolglos geblieben zu sein.

Quellen und externe Links

Bibliografie

Primärliteratur

  • Lenormand, Henri-René: Théâtre choisi, édition critique de Marie-Claude Hubert. Paris: Honoré Champion 2018 (enthält : Le temps est un songe, Les ratés, Le Simoun, Le mangeur de rêves, L’homme et ses fantômes, L’amour magicien, Crépuscule du théâtre).
  • Lenormand, Henri-René: Confessions d’un auteur dramatique, 2 vol. Paris: Albin Michel 1949 und 1953 (réédition en un volume par Marie-Claude Hubert. Paris : Honoré Champion 2016).
  • Lenormand, Henri-René: Theater: Dramen (Die Namenlosen, Stimmen aus dem Dunkel, Der Feigling). Berlin, Wien: Zsolnay 1930.

Quellen

Sekundärliteratur

  • Chalaye, Sylvie: L’Afrique d’Henri-René Lenormand ou la colonie, abîme des enfers. Double jeu, 5, avril 2009. Caen: PU de Caen, S. 37–56 [mis en ligne le 05 juillet 2018, consulté le 26 novembre 2020. URL: http://journals.openedition.org/doublejeu/1510
  • Gregorio, Amélie: L’« Arabe » colonisé dans le théâtre français. De la conquête de l’Algérie aux grandes expositions coloniales (1830-1931). Lyon: PU de Lyon 2020 (Kapitel Henri-René Lenormand : un théâtre « colonial » anticolonialiste ?, S. 295–328).
  • Jones, Robert Emmet: H.R. Lenormand. Boston: Twayne 1984.
  • Ohayon, Annick: Un auteur dramatique et ses fantômes: Henri‐René Lenormand, mangeur de rêves/A Drama Author and his Ghosts: Henri‐René Lenormand, Dream Devourer. Revista Culturas Psi/Psy Cultures, Buenos Aires, abril 2017, no8, S. 5–18.
  • Picart, Marianne: Du rire à l’inquiétude et de l’inquiétude au rire. Ödön von Horváth et Henri-René Lenormand. Une étude croisée autour de la figure mythique de Don Juan. In: Ödön von Horváth : écritures dramatique, réécritures, traductions, Germanica 73, 2023, S. 81–94. URL: https://journals.openedition.org/germanica/20543
  • Siran, Jules: Le paradoxe du ‘théâtre exotique d’avant-garde’ dans les années 1920. Archaïsme et modernité dans la collaboration Baty-Lenormand. Sociétés & Représentations. Éditions de la Sorbonne 2011/1 (no31), S. 35–53.
  • Zieger Karl: Berta Zuckerkandl, ‘importatrice’ du théâtre français des années 1920/30 sur les scènes viennoises. In: Marianne Bouchardon, Ariane Ferry (dir.): Rendre accessible le théâtre étranger (XIXe-XXIe siècles). Villeneuve d’Ascq: PU du Septentrion 2017, S. 207–217.

Autor

Karl Zieger

Onlinestellung: 17/12/2024