Thomas Bernhard

Seit den 1980er Jahren ist Thomas Bernhard (* 9. Februar 1931 in Heerlen, Niederlande, † 12. Februar 1989 in Gmunden, Oberösterreich) neben Peter Handke in Frankreich einer der bekanntesten Schriftsteller der österreichischen Literatur nach 1945. Die französischen Übersetzungen seiner Werke folgen seit den 1960er Jahren zeitnah den deutschsprachigen Veröffentlichungen, die Prosa bei Gallimard seit 1967, die Stücke seit 1974 bei dem Verlag L’Arche. Die Geschichte der französischen Rezeption ist jedoch nicht nur eine literarische, sondern die Aufnahme seines Werks und die Wahrnehmung der Person des Schriftstellers sind eng mit der Entwicklung des Österreichbildes in Frankreich verbunden. Bernhards Werk und Persönlichkeit tragen dazu bei, ein bestimmtes Bild der politischen und sozialen Kultur Österreichs zu vermitteln.
Biografie
Der Romancier und Dramatiker Thomas Bernhard wurde am 9. Februar 1931 als unehelicher Sohn einer österreichischen Mutter in Heerlen (Niederlande) geboren. Er wird in seiner Kindheit vor allem von seinen Großeltern mütterlicherseits in Österreich erzogen; der Großvater, ein verkannter Schriftsteller, Vorbild und Lehrer für den jungen Bernhard, spielt eine entscheidende Rolle in dessen intellektueller Bildung. Als rebellischer und gedemütigter Jugendlicher brach Bernhard 1947 seine Schulausbildung ab und wurde Kaufmannslehrling in einem Vorort von Salzburg, wo er sich eine fast tödliche Brustfellentzündung zuzog. Als junger Mann lässt er sich zum Sänger ausbilden und nimmt Schauspielunterricht. In den 1950er Jahren arbeitete er als Gerichtsreporter in Salzburg, gab sein literarisches Debüt als Autor von avantgardistischen Libretti in einem besonderen künstlerischen Milieu in der österreichischen Provinz (dem Tonhof in Kärnten), und veröffentlichte seine ersten literarischen Texte, vor allem Gedichte. Der Erfolg des ersten Romans Frost (1963) – in einer sehr neuen und originellen, von nun ab für Bernhard charakteristischen Schreibweise – ermöglichte es ihm, von seiner Feder zu leben. Das literarische Werk – Prosa und Theater – ist geprägt von den Erfahrungen des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit, von früher Einsamkeit, materieller Not und Krankheit und gleichzeitig von der radikalen Kunsterziehung „in die entgegengesetzte Richtung“ durch den Großvater und der Hassliebe zu seinem Land Österreich. Der schwarze Humor und die beißende Ironie der Texte werden spät und nur selten erfasst werden. Der mit Preisen überhäufte und weltberühmte, aber auch skandalumwitterte und umstrittene Schriftsteller starb am 12. Februar 1989 in Gmunden.
Gleich nach dem Erscheinen von Frost in Deutschland schreibt die Tageszeitung Le Monde (12. November 1963): „Der Tag wird kommen, an dem Thomas Bernhard, einzigartig und explosiv, so bekannt sein wird wie Rilke und Hofmannsthal zu ihrer Zeit“. Während der ersten Rezeptionsphase (zwischen 1967 und 1981 erschienen Frost, Verstörung, Kalkwerk, Korrektur, Ja in französischer Sprache) wurde diese neue Prosa aus einer ästhetisch-literarischen, ja sogar philosophischen Perspektive wahrgenommen[1] . Das zyklische, repetitive und musikalische Schreiben wurde als adäquater Ausdruck der in radikaler Opposition zu den gesellschaftlichen Normen stehenden Bernhardschen Erzähler und Antihelden für ihre obsessive Untersuchung von existenziellen Fragen betrachtet. Im Gegensatz zu anderen österreichischen Schriftstellern, die häufig der deutschen Literatur zugerechnet werden, sieht die Literaturkritik in Thomas Bernhard von Anfang an einen österreichischen Autor, der in Österreich und seinem literarischen und kulturellen Erbe verankert ist. Sie bezeichnet ihn aufgrund seiner Sprachkritik, der metaphysischen Leere und der Ablehnung ideologischer Konstrukte als „geistigen Sohn Wittgensteins“, wobei die negative Topografie Österreichs als Ausdruck eines in innere Konflikte verstrickten Schriftstellers ausgelegt wird. Ab Mitte der 1970er Jahre interessierte sich ein kleiner Kreis von französischen Übersetzern und Regisseuren für den Dramatiker Bernhard, doch die ersten beiden Produktionen von Der Ignorant und der Wahnsinnige und Der Präsident wurden nach nur wenigen Aufführungen wieder vom Spielplan genommen. Die ästhetische Distanz zwischen Bernhards Theater und den Erwartungen des Publikums in Frankreich ist zu groß, in einer Zeit des engagierten kollektiven Theaters (Théâtre du Soleil, Grand Cirque magique) und der naturalistisch-psychologischen Inszenierungen, während sich das von Antonin Artaud[2] beeinflusste post-brechtsche Theater, das Bernhards Dramaturgie näher steht, erst allmählich seinen Weg bahnt. Bernhards Theater wird zunächst unverstanden bleiben („mal vu et mal entendu)[3]“.
Zwischen 1982 und 1985 erschienen Der Imitator, Wittgensteins Neffe und die fünf autobiografischen Texte in französischer Übersetzung, die als Schlüsseltexte für die Genese des Schriftstellers und für die Interpretation des Werks gelesen werden. Bernhards Persönlichkeit und sein von Krankheit gezeichneter Weg „in die entgegengesetzte Richtung“ fesseln Leser und Kritiker. In den Rezensionen häufen sich Atem-Metaphern, das atemraubende, ja keuchende Schreiben sei Ausdruck des verletzten Atems, sei ein Leitmotiv für das gesamte Werk und Leben des Schriftstellers. Nach und nach werden die literarisch-ästhetischen von psychologischen und soziokulturellen Kriterien verdrängt und ergänzt. Im Zuge des wachsenden Interesses an der Kultur des Wiener Fin-de-siècle wird der „geistige Sohn Wittgensteins“ zum „Erben des goldenen österreichischen Zeitalters“ oder zum „Samuel Beckett Mitteleuropas“. Diese Wahrnehmung bleibt jedoch auf die positive Perspektive von Wien 1900 beschränkt: Das kulturelle, historische und sogar politische[4] Österreich wird in Frankreich so sehr bewundert, dass man sogar von „Viennomanie“ spricht, wobei jedoch ein großer Teil der Literatur und der Realität dieses Landes außerhalb des Blickfelds bleibt. Bernhards scharfe Kritik an Österreich in den autobiografischen Erzählungen wird als Teil der nihilistischen Tradition Mitteleuropas gesehen, die eng mit der Psyche des Autors verbunden ist.
Die Rezeption des dramatischen Werks von Thomas Bernhard wurde während der 1980er Jahre durch die Mode des deutschsprachigen Theaters auf französischen Bühnen unterstützt. Bezeichnenderweise war die erste erfolgreiche Inszenierung im Jahr 1982 die von Vor dem Ruhestand, dem wohl politischsten Stück über die Banalität des Bösen im Nationalsozialismus. Das umfassende Dossier „Thomas Bernhard“ in Théâtre/Public im März/April 1983 lieferte substanzielle Texte über Bernhards Theater, die von der wachsenden Anerkennung des Dramatikers zeugten und die zahlreichen Inszenierungen seiner Stücke in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ankündigten. Seine Bekanntheit bei einem breiteren französischen, wie übrigens auch deutschsprachigen, Publikum ist letztendlich größtenteils auf die kritische Haltung Bernhards gegenüber seinem eigenen Land und auf seinen Ruf als Skandalautor in Österreich zurückzuführen.
Bernhards Glanzzeit in Frankreich (1986–1991) fällt mit dem Moment zusammen, in dem die Bewunderung und Begeisterung für die österreichische Kunst und Literatur durch eine negative Wahrnehmung Österreichs aufgrund der „Waldheim-Affäre“, die die ambivalente Einstellung Österreichs zu seiner nationalsozialistischen Vergangenheit offenbart, abgelöst werden: In Frankreich geht Bernhards Stern zur gleichen Zeit auf, als sich das Image seines Landes verdüstert. Lobeshymnen begleiten jede Veröffentlichung von Prosatexten, Alte Meister erhält 1988 den Prix Médicis étranger, renommierte Regisseure (Jean-Pierre Vincent[5], André Engel [6], Jorge Lavelli [7]) nehmen sich seiner Stücke an. Zwischen 1988 und 1991 war Bernhard der meistgespielte ausländische zeitgenössische Autor auf französischen Bühnen.
Die erhöhte französische Aufmerksamkeit in Bezug auf die sozio-politischen Ereignisse in Österreich strukturiert nun die Bernhard-Rezeption und rückt die konfliktreiche Beziehung zwischen dem österreichischen Schriftsteller und seinem Land in den Mittelpunkt. Einerseits dringt das soziopolitische Geschehen in Österreich in die Theaterberichte und -kritiken ein, andererseits werden die Bernhardschen Österreich-Beschimpfungen – es handelt sich um Zitate aus literarischen Werken – wörtlich genommen und außerhalb der literarischen Rubrik zur Veranschaulichung der politischen Ereignisse in Österreich herangezogen. Der Schriftsteller war (neben anderen österreichischen Künstlern) einer der wenigen positiven Imageträger und verkörperte gewissermaßen das schlechte Gewissen seines Landes. Bernhards Tod im Februar 1989 fällt in eine Periode großer Medienpräsenz. In keinem Land außerhalb des deutschen Sprachraums wurde über den Heldenplatz-Skandal in Österreich so ausführlich berichtet wie in Frankreich. Im Herbst 1988 erschienen Ave Vergil und der Roman Alte Meister, vier Theaterstücke wurden im Rahmen des Festival d’Automne in Paris aufgeführt. Im Februar 1989 wurde eine neue Übersetzung von Verstörung veröffentlicht. Unter den zahlreichen huldigenden Nachrufen zögern einige nicht, den Tod des Schriftstellers in einen kausalen Zusammenhang mit dem „Heldenplatz-Skandal“ zu setzen. Dass diese Lesart die universelle Bedeutung von Bernhards Werk nicht wahrnimmt, entlarvte der spanische Schriftsteller Fernando Arrabal [8] bereits im Oktober 1989 in dem in L’Idiot International erschienenen Artikel „Insulte à la France“ (Beleidigung Frankreichs), indem er Zitate aus Heldenplatz und Bernhards testamentarische Verfügungen in einen französischen Rahmen übertrug und systematisch alle österreichischen Bezüge durch französische ersetzte.
In den zwei Jahren nach Bernhards Tod überschwemmten förmlich Theaterstücke und dramatische Bearbeitungen von Prosatexten und Interviews die französischen Bühnen. In der Theatersaison 1990/91 wurden sieben Produktionen in Paris und zwanzig verschiedene Inszenierungen in ganz Frankreich aufgeführt. Wie bei deutschen und österreichischen Verlagen ersetzen kritische Werke, akademische Analysen und Bücher über/um Bernhard in gewisser Weise den Mangel an Originaltexten. Eine produktive Rezeption zeigt den Einfluss Bernhards auf die französischsprachige Literatur: So stellt Nicolas Stakhovitchs Roman Les Aphorismes de Gralph (1991) ein derart gelungenes Pastiche dar, dass der Verleger Maurice Nadeau [9] glaubte, es handle sich um einen Text des österreichischen Schriftstellers. Zum Beispiel Joël Jouanneau in seiner musikalischen und kreisenden Schreibweise (La nuit d’orage sur Gaza oder Conjuration Opus 8) oder Hervé Guibert [10] in dem Roman L’ami qui ne m’a pas sauvé la vie berufen sich ausdrücklich auf Bernhard.
Seit Mitte der 1990er Jahre hat Thomas Bernhard den Status eines „modernen Klassikers“ erlangt. Die großen Prosatexte erscheinen als Taschenbuch und die Stücke werden an bedeutenden Bühnen, sowie Comédie Française und Odéon – Théâtre de l’Europe gespielt. Über die österreichische Verankerung des Werks und eine zu enge ,österreichische‘ Lesart seiner scharfen Sozialkritik hinaus, schätzt die französische Kritik von nun an die Universalität und den Humor bei Bernhard. Es scheint so, dass in Frankreich die Faszination bei Leserschaft und Publikum für den „Zustand der permanenten Opposition“, ein dem Werk und der Persönlichkeit innewohnendes Merkmal, und für den „unter allen anderen erkennbaren“ Schreibstil Bernhards weiterhin anhält.
Quellen und externe Links
- ↑ Nicole Casanova, « Corrections », Esprit, Mai 1978: „Gewiss, wir haben Derrida, und Computer, die Leibniz’ Forschungen über die Universalsprache fortsetzen, die Algorithmen oder Gedanken ohne Sprache schaffen. In diese Richtung gehen auch die Österreicher, allerdings außerhalb jeglichen Labors: Sie leben ihr philosophisches Abenteuer. Sie schreiben keine Abhandlungen oder mathematischen Formeln, sondern Romane und Gedichte.“
- ↑ http://www.deutsche-biographie.de/118504495.html
- ↑ Porcell 1986, S. 123-145.
- ↑ Auf politischer Ebene wurde das „österreichischen Modell“ mit Bundeskanzler Bruno Kreisky (als international geschätzter und belesener Politiker), und damit der österreichische Staat, auch als politisches Vorbild betrachtet.
- ↑ https://d-nb.info/gnd/1246727439
- ↑ https://www.deutsche-biographie.de/pnd14255183X.html#index
- ↑ https://www.deutsche-biographie.de/pnd120013924.html#index
- ↑ https://www.deutsche-biographie.de/11850441X.html
- ↑ https://www.deutsche-biographie.de/118996290.html
- ↑ https://www.deutsche-biographie.de/pnd118997637.html
Bibliografie
Primärliteratur
- Éditions Gallimard (Prosa): https://www.gallimard.fr/auteurs/thomas-bernhard
- Éditions de L’Arche (Theater): https://www.arche-editeur.com/auteur/bernhard-thomas-266
Sekundärliteratur (kleine Auswahl)
- Hornig, Dieter und Weinmann, Ute (Hrsg.): Thomas Bernhard. Cahier de l’Herne 132. Paris: Éditions de l’Herne 2021.
- Huguet, Louis: Thomas Bernhard ou le silence du sphinx. Recherches biographiques bernhardiennes. Cahiers de l’Université de Perpignan 11 (2. Semester 1991).
- Lenormand, Hervé und Wögerbauer, Werner (Hrsg.): Thomas Bernhard. Cahiers l’Envers du miroir: Arcane 17 (1987).
- Porcell, Claude : « Mal vu, mal entendu. Le théâtre de Thomas Bernhard dans la presse française ». In: France Autriche 1970-1986. Positions et relations culturelles. Université d’Orléans, 12.-13. Mai 1986, S. 123–145.
- Porcell, Claude (Hrsg.): Thomas Bernhard. Ténèbres. Paris: Maurice Nadeau éditeur 1989.
- Porcell, Claude: Thomas Bernhard. Encyclopaedia Universalis: corpus 4, 1995.
- Weinmann, Ute: Thomas Bernhard, l’Autriche et la France. Histoire d’une réception littéraire. Paris: L’Harmattan (Reihe « La Philosophie en commun ») 2000.
Autor
Ute Weinmann
Onlinestellung: 30/01/2025