Ferdinand Raimund

Ferdinand Jakob Raimann, genannt Ferdinand Raimund (*1. Juni 1790 in Wien, † 5. September 1836 in Pottenstein, Niederösterreich), gilt heute neben seinen Zeitgenossen Franz Grillparzer und Johann Nestroy als einer der drei Hauptverterter des österreichischen Theaters im 19. Jahrhundert. Trotzdem bleibt sein Werk außerhalb Österreichs und der deutschsprachigen Länder vor allem aufgrund fehlender Übersetzungen weitgehend vernachlässigt, was sich ebenfalls in der noch zögerlichen Rezeption Raimunds in Frankreich widerspiegelt[1], auch wenn sich um die 2020er Jahre ein positiver Umschwung abzuzeichnen scheint.
Biografische Angaben
Raimund, der wie Nestroy ein vielseitiger Theatermann war – Schauspieler, Dramatiker, Regisseur, Theaterdirektor – und auf seine Weise die komische Tradition des Wiener Vorstadttheaters fortsetzte, hinterließ acht Stücke, die zwischen 1823 (Der Barometermacher auf der Zauberinsel) und 1834 (Der Verschwender) entstanden und in denen er das „Zauberspiel“ zu einer literarischen Gattung erhob[2]: Feen und gute Geister stellen die Figuren auf die Probe und befreien sie von ihren Schwächen, von Gier, Neid oder Dummheit. Raimund, Sohn eines Drechslermeisters aus der Wiener Vorstadt, fühlte sich schon früh zum Theater hingezogen und war zuerst Mitglied einer Wandertruppe, die in der österreichischen Provinz auftrat. Ab 1814 war er mit dem Theater in der Josefstadt[3] verbunden, 1828 wurde er zum Direktor des Theaters in der Leopoldstadt[4] ernannt und feierte mit seinen bekanntesten Stücken – Das Mädchen aus der Feenwelt oder Der Bauer als Millionär, Der Alpenkönig und der Menschenfeind, Der Verschwender – triumphale Erfolge in Wien.
Raimund auf französischen Bühnen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 2010er Jahre
Wie bei seinem „Nachfolger“ Johann Nestroy bleibt die Präsenz Ferdinand Raimunds auf den französischen Bühnen bis heute sehr bescheiden. Dennoch lassen sich in der Rezeption seiner Werke vom Ende des 19. Jahrhunderts bis etwa 2010 mehrere Phasen ausmachen.
Im annektierten Lothringen (1871–1918) wurde zunächst am Metzer Stadttheater Raimunds Werk, ebenso wie das von Nestroy, als Kulturwaffe gegen den Pangermanismus eingesetzt[5]; in der Tat kam es zu dieser Zeit nicht selten vor, dass die „österreichische“ (oder eher österreichisch-ungarische) Kultur gegen die „deutsche“ (preußische) ausgespielt wurde. So führte im Februar 1873 eine deutschsprachige Theatertruppe Raimunds letztes Stück, Der Verschwender, in Metz auf[6].
Die allererste Aufführung eines Raimund-Stücks in Frankreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (unter dem Titel Le paysan millionaire ou La fille du royaume des fées, unveröffentlichte Übersetzung von Dieter Welke) fand im März 1992 in Yerres, südlich von Paris, statt. Das von Françoise Quinot inszenierte und von der „Compagnie des quatre vents“ aufgeführte Stück war ein großer Misserfolg, auch in finanzieller Hinsicht[7].
Einige Jahre später wurde Raimund in Paris bei den „Semaines du théâtre autrichien“ vorgelesen, die 1986 von dem österreichischen Übersetzer Heinz Schwarzinger (Pseudonym: Henri Christophe) gegründet worden waren, um dem französischen Publikum die Stücke klassischer und zeitgenössischer Autoren und Autorinnen näher zu bringen[8]. So wurde am 13. Oktober 1997 im Théâtre de la Cité Internationale in Paris anlässlich der elften „Semaine du théâtre autrichien“ – die den „Comédies autrichiennes“ gewidmet war – eine gekürzte Fassung von Raimunds Verschwender aufgeführt, die sich auf die Übersetzung des Stücks stützte, die Sylvie Muller 1992 für die Maison Antoine Vitez – Centre international de la traduction théâtrale verfertigt hatte[9].
Auf diese Aufführungen des Verschwender folgten noch zwei Veranstaltungen, die pädagogische Zwecke verfolgten: Die gefesselte Fantasie wurde unter dem Titel L’imagination captive zwischen dem 25. und 28. Mai 2000 an der École Perceval von Chatou gegeben, ebenso wie Das Mädchen aus der Feenwelt oder Der Bauer als Millionär 2007 in (unveröffentlichten) Übersetzungen von Benoît Journiac, der damals Musiklehrer an dieser Schule war[10].
Ein Wendepunkt in den 2020er Jahren
Eine erste entscheidende Wende in der französischen Raimund-Rezeption vollzieht sich auf der Forschungsebene. Neben den bereits erwähnten Aufsätzen von Marc Lacheny zur französischen Rezeption des österreichischen Dramatikers[11] ist hier auf die Dissertation von Fanny Platelle hinzuweisen, die 2021 in überarbeiteter Form unter dem Titel Ferdinand Raimund et le renouvellement de la féerie viennoise (Ferdinand Raimund und die Erneuerung des Wiener Zauberspiels) im Verlag Peter Lang erschien. Diese 718 Seiten umfassende Arbeit, die allererste Monographie über den Wiener Dramatiker in französischer Sprache, bietet eine detaillierte Analyse der Art und Weise, wie Raimund die Konventionen des Wiener „Zauberspiels“ aufgreift, sich aneignet und umwandelt, indem er seinen Stücken eine zugleich literarische, moralische und ernste Dimension verleiht. Die Verfasserin analysiert Raimunds Veränderungen bei Handlung und Konzeption der Stücke (insbesondere die Suche nach einer harmonischen Verbindung von Ernst und Komik), in der übernatürlichen Welt (als Spiegelbild der menschlichen Ideale und ihrer Erschütterung) sowie in der Behandlung der komischen Figur, die sich in Raimunds Stücken vom Narren zum moralischen Vorbild wandelt (Valentin in Der Verschwender). Mit dieser gründlichen Untersuchung aller Stücke Raimunds gelingt es Fanny Platelle, eine bedeutsame Entwicklung in seinem Schaffen ans Licht zu bringen, die von den noch stark parodistischen Stücken der frühen Jahre zu den ernsten und komischen Zauberspielen der späteren Jahre führt – eine Entwicklung, die von einer „neuen Konzeption der Komödie[12]“ und des Wiener Volkstheaters[13] sowie von einem Versuch zeugt, im Wiener Vorstadttheater eine Synthese zwischen Ernst und Komik zu finden.
Ein anderer bedeutender Wendepunkt, diesmal editorischer Art, ist 2024 zu verzeichnen: Der Leiter des Brigadier-Verlags, Jean-Joël Huber (Lille), lässt fünfzehn Stücke – 5 von Raimund, 10 von Nestroy – ins Französische übersetzen. Zu diesem Zweck versammelt er um Heinz Schwarzinger (Henri Christophe), der das Projekt leitet, ein Team von französisch-österreichischen Übersetzerinnen und Übersetzern, das aus Jean-Louis Besson, Catherine Creux, Marc Lacheny und Sylvie Muller besteht. Jede Übersetzung ist Teil eines kollaborativen Ansatzes[14] : Jeder Akt und jede Szene werden gemeinsam besprochen, jede größere Übersetzungsschwierigkeit breit diskutiert – seien es Anspielungen oder Verweise auf Österreich, Raimunds Sprache (die zwischen der Hochsprache, dem Wiener Dialekt und der in Österreich im 19. Jahrhundert gesprochenen Umgangssprache schwankt, ganz zu schweigen von Raimunds Wortspielen und Verwendung von Fremdwörtern), oder auch die Theatralität des Textes. Das Vorlesen bestimmter Szenen ermöglicht es, den Übersetzungsvorgang sofort in diese Mündlichkeit einzubetten. 2024 erschienen im Brigadier-Verlag drei Übersetzungen von Raimund: Le charlatan sur l’île enchantée (Der Barometermacher auf der Zauberinsel), übersetzt von Marc Lacheny; Le paysan millionaire ou La demoiselle du royaume des fées (Das Mädchen aus der Feenwelt oder Der Bauer als Millionär), übersetzt von Henri Christophe; Le Flambeur (Der Verschwender), übersetzt von Sylvie Muller. Es folgen 2025 Die gefesselte Fantasie (La muse enchaînée), übersetzt von Jean-Louis Besson, und Der Alpenkönig und der Menschenfeind (Le Roi des cimes et le misanthrope), übersetzt von Henri Christophe.
Mit diesen fünf Übersetzungen (von Raimunds insgesamt acht Stücken) ist der Grundstein für eine Aneignung von Raimunds Zauberspielen durch die französischen Bühnen gelegt.
Quellen und externe Links
- ↑ Lacheny 2016
- ↑ Platelle 2021
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Theater_in_der_Josefstadt_(Institution)
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Carltheater
- ↑ Benay 2002: 155
- ↑ Vgl. die Metzer Zeitung vom 19. Februar 1873, S. 3
- ↑ Lacheny 2011: 60–61
- ↑ Schwarzinger 2001
- ↑ Siehe Lacheny 2011: 61–63
- ↑ Lacheny 2011: 63 und Lacheny 2016: 312
- ↑ Lacheny 2011, 2013, 2016
- ↑ Platelle 2021: 56
- ↑ Ebd.: 653
- ↑ Vgl. Monti / Schnyder (Hrsg.) 2018; Frigau Manning / Karsky (Hrsg.) 2017
Bibliografie
- Benay, Jeanne: Johann Nestroys / Jean Nestroys Werk als frankophone und deutsche Kulturwaffe im annektierten Lothringen (1871–1918). In: Gabriella Rovagnati (Hrsg.): Johann Nepomuk Nestroy. Tradizione e trasgressione. Mailand: CUEM 2002, S. 145–177.
- Frigau Manning, Céline und Karsky, Marie Nadia (Hrsg.): Traduire le théâtre. Une communauté d’expérience. Saint-Denis: Presses Universitaires de Vincennes 2017.
- Lacheny, Marc: Raimund in Frankreich. In: Nestroyana 31 (2011), S. 58–70.
- Lacheny, Marc: Von Der Verschwender (1834) zu Le Prodigue (1992): Ein Beispiel Raimund’schen Überlebens in Frankreich. In: Nestroyana 33 (2013), S. 55–71.
- Lacheny, Marc: Raimund en France, Raimund et la France : bibliographie commentée. In: Théâtres du Monde 26 (2016), S. 319–326.
- Monti, Enrico und Schnyder, Peter (Hrsg.): Traduire à plusieurs. Collaborative Translation. Paris: Orizons 2018.
- Platelle, Fanny: Ferdinand Raimund et le renouvellement de la féerie viennoise. Bern u.a.: Peter Lang 2021.
- Schwarzinger, Heinz: Les „Semaines du théâtre autrichien“: un théâtre de résistance. In: Austriaca 53 (2001), S. 257–281.
Autor
Marc Lacheny
Onlinestellung: 04/02/2025