Heinrich von Geymüller

In Wien geboren, verbrachte der Architekt und Kunsthistoriker Heinrich von Geymüller (1839-1909) seine ersten Kindheitsjahre ebendort. Mit einer Pariserin verheiratet, war Frankreich über Jahrzehnte Geymüllers Hauptwohnsitz. Gegen Ende seines Lebens intensivierten sich im Rahmen architekturhistorischer Forschungen Geymüllers Kontakte nach Wien, wodurch auch sein Nachlass nach Österreich kam.
Biografie
Am 12. Mai 1839 in Wien geboren, am 19. Dezember 1909 in Baden-Baden gestorben, verlebte Geymüller nach dem Scheitern des elterlichen Bank- und Firmenimperiums (Finanzkrise 1842) eine odysseische Kindheit und Jugend mit Aufenthalten in England, Frankreich und der Schweiz. Nach dem Tod des Vaters (1848) und der schweren Krankheit der Mutter wurde Geymüller von der Familie eines Schulfreundes formlos adoptiert. Die Ausbildungen zum Ingenieur und Architekten in Paris und Berlin formten einen polyglotten Europäer, der in der Folge in vier Sprachen (Deutsch, Französisch, Englisch und Italienisch) kommunizieren und publizieren sollte.
Nach praktischen Tätigkeiten in Berlin und Paris begann sich Geymüller für spezielle Fragen der Architekturgeschichte zu interessieren. Angeregt und unterstützt durch den Schweizer Kunst- und Kulturhistoriker Jakob Burckhardt[1] versuchte Geymüller durch intensive Studien in der Zeichnungssammlung der Uffizien in Florenz die Bau- und Entwurfsgeschichte von St. Peter in Rom klarer zu fassen. Die Bemühungen hatten bald Erfolg. Geymüller konnte spektakuläre Funde vorweisen und aufsehenerregende Zuschreibungen tätigen; es war ihm gelungen, die - bislang unbekannten - zentralen Dokumente zur Entwurfsgeschichte von St. Peter zu identifizieren und zu interpretieren. Als ausgebildeter Architekt und ganz Kind seiner Zeit versuchte Geymüller aus meist kryptischen grafischen Dokumenten anschauliche Baugedanken in Form von projektiven Vervollständigungen zu erstellen. Diese Rekonstruktionen bzw. Restaurationen von Entwürfen aus der Zeit der Renaissance beeindrucken durch ihre grafische Qualität und imaginative Kraft.


Ausgehend von den Studien zu den Entwürfen und Projekten von St. Peter in Rom erweiterte Geymüller seine Forschungen auf eine Reihe zentraler Themen der Renaissancearchitektur. Seine Publikationen zu den architektonischen Arbeiten von Raffael, Leonardo und Michelangelo sowie zu den Du Cerceau stellten Pionierleistungen dar. Ebenso gelten die mehrbändigen Veröffentlichungen zur Architektur der Renaissance in Frankreich und der Toskana als Standardwerke. Auch die praktischen und methodischen Beiträge Geymüllers zu Restaurierung und Denkmalpflege wurden viel diskutiert und haben sich bis heute als einflussreich erwiesen. Bei seinem Tod hinterließ Geymüller eine Reihe begonnener bzw. unabgeschlossener Vorhaben. Vor allem das Projekt eines architektonischen Thesaurus, einer umfangreichen und repräsentativen Sammlung architekturbezogener Darstellungen mit methodisch-systematischem Anspruch und in möglichst guter Wiedergabe (Faksimile) beschäftigte Geymüller über Jahrzehnte.
Generell versuchte Geymüller in seinen Arbeiten erstmals und systematisch die Bedeutung von Entwurfszeichnungen für die Architekturgeschichte herauszustellen und nutzbar zu machen sowie ihr methodisches Studium voranzutreiben. Dadurch, und durch die Qualität der Abbildungen als Faksimile, förderte er einen Paradigmenwechsel in der Praxis der Architekturpublikation.
Geymüllers Vermittlerfunktion muss im Kontext seiner europäischen Identität gesehen werden. Die wohlhabende und kultivierte Familie, in die er in Wien hineingeboren wurde, kam aus Basel, stammte ursprünglich aber aus dem Elsass. Die Mutter, Eleonore Eliza Griesbach (1808-1866), war Tochter einer seit Generationen in England lebenden Familie aus Hannover. Nachdem die Familie Wien verlassen hatte, begann eine jahrelange Odyssee die dem neunjährigen Heinrich über Basler Verwandte zumindest das Basler Bürgerrecht sicherte. Diese Staatsbürgerschaft sollte sein Leben lang seine einzige bleiben. Die pädagogisch überforderten Zieheltern gaben den Zehnjährigen in eine Pension in Frankfurt. 1851 kam Heinrich von Geymüller in das Collège Galliard in Lausanne. Nach der liebevollen Aufnahme in der Familie des Schulfreundes Louis Boissonnet kam etwas Stetigkeit in das bislang so bewegte Leben des Knaben. Durch die – äußerst kunstsinnige - neue Familie wurde der österreichischen, elsässisch-schweizerischen sowie deutsch-englischen Herkunft Geymüllers noch eine französisch-russische Komponente hinzugefügt und dadurch seine europäische Verwurzelung um zusätzliche Facetten bereichert. Nach der Ingenieursschule in Lausanne (1857) schlossen Geymüller und sein Freund Louis Boissonnet[2] ein Studium an der Pariser École Centrale des Arts et Manufactures[3] an. Danach (1860) wechselte Geymüller nach Berlin, um an der Bauakademie bei prominenten Lehrern zu studieren. Berlin war um diese Zeit auch ein kreatives Zentrum der aufstrebenden jungen Disziplin Kunstgeschichte. Über Wilhelm Lübke, der an der Bauakademie lehrte, ergab sich 1863 ein erster Kontakt zu Jakob Burckhardt. Diese Bekanntschaft, aus der sich schnell eine enge Freundschaft entwickelte, sollte den weiteren Lebensweg Geymüllers entscheidend prägen. Nach einer Tätigkeit als Bauführer für seinen Lehrer Adler ging Geymüller wieder nach Paris, um seine Ausbildung an der École des Beaux-Arts[4] zu vervollständigen. 1864 trat er dort in ein Architekturbüro (Questel[5]) ein, verließ dieses aber bald darauf wieder, als sein Freund Boissonnet tödlich verunglückte und er dessen Mutter in der Schweiz beistand. Nach einem Aufenthalt in Wien 1866 (die Mutter war dort verstorben) versuchte es Geymüller erneut, in Paris eine praktische Tätigkeit als Architekt (Büro Le Soufaché[6]) auszuüben.
Inzwischen waren – vor allem durch Anregungen von Lübke und Burckhardt – Fragen der Architekturgeschichte in den Vordergrund des Interesses gerückt und nach einigen äußerst erfolgreichen Studienaufenthalten in Italien und den ersten einschlägigen Publikationen (1868) widmete sich Geymüller ganz den Forschungen zur Architekturgeschichte. 1875-1880 erschien (in Wien und Paris) das bahnbrechende, zweibändige Werk zu den Entwürfen für St. Peter in Rom in deutscher und französischer Sprache. Nach der Heirat mit Marguerite Delaborde (1869) wurde Paris für Jahrzehnte Geymüllers Hauptwohnsitz. In den 1880er Jahren erschienen weitere wichtige Arbeiten zur Architekturgeschichte; zu Leonardo (1883), Raffael (1884) und Du Cerceau (1887). Auch das vielbändige Werk zur Architektur der Renaissance in Toscana begann 1885 zu erscheinen; es sollte erst 1908, ein Jahr vor Geymüllers Tod seinen Abschluss finden.
Wenn auch nicht übertrieben häufig, so ergaben sich doch immer wieder wichtige Kontakte zu Wien und Österreich. 1873 nahm Geymüller – noch vor der großen Publikation zu St. Peter aber bereits als Fachmann ausgewiesen – an der Wiener Weltausstellung teil und zeigte dort seine grafischen Projektionsversuche („Restaurationen“) nach Entwürfen für St. Peter in Rom. Seine Arbeit wurde mit einer Medaille für Kunst ausgezeichnet. Etwa ein Jahrzehnt später, Geymüller war bereits erste und unbestrittene Autorität für Architekturforschung, strebte er eine feste Stelle in Wien an. Nachdem Moritz Tausig, der Direktor der Albertina, verstorben war, richtete Geymüller 1884 eine Anfrage bezüglich einer Stelle an Rudolf von Eitelberger. Eitelberger war der Inhaber der ersten Wiener Lehrkanzel für Kunstgeschichte und Gründungsdirektor des Museum für Kunst und Industrie (das heutige MAK). Er zeigte sich an einer Tätigkeit Geymüllers in Wien sehr interessiert, musste aber eingestehen, dass die Professuren nicht sehr hoch dotiert waren und die Inhaber solcher Stellen in der Regel Nebenbeschäftigungen ausübten. Die Verhandlungen fanden aber durch eine schwere Erkrankung Eitelbergers und seinen baldigen Tod ein abruptes Ende. Nach der hoch produktiven Phase der 1880er Jahre gerieten in den 1890er Jahren einige von Geymüllers Vorhaben ins Stocken. Das bereits lange verfolgte und nunmehr reaktivierte Projekt eines architektonischen Thesaurus brachte Geymüller in Kontakt mit einem jungen Forscher aus Wien; dieser, Hermann Egger[7], hatte mit seinen Veröffentlichungen die wissenschaftliche Ausrichtung Geymüllers aufgenommen und weiterführt. Egger (1873-1949) begann um die Jahrhundertwende zu Architekturzeichnungen zu publizieren und empfand sich als Schüler Geymüllers. Dieser sah in dem jungen Wiener auch seinen wissenschaftlichen Erbwalter. Einerseits sollte Egger - im Falle des Ablebens von Geymüller - den sich endlos hin ziehenden Abschluss der Architektur der Renaissance in Toscana gewährleisten, andererseits hoffte Geymüller, gemeinsam mit dem jungen Wissenschaftler das Projekt des Thesaurus wieder aufnehmen zu können. Das sogenannte Toscanawerk konnte Geymüller noch ein Jahr vor seinem Tod vollenden, der Thesaurus blieb leider ein Vorhaben. In jedem Fall aber war die fachliche Partnerschaft zwischen den beiden Forschern in den letzten Lebensjahren Geymüllers so eng, dass die Familie seinen gesamten wissenschaftlichen Nachlass Hermann Egger (dieser war 1911 als Professor für Kunstgeschichte nach Graz berufen worden) und dem Grazer Institut als Schenkung überließ. So war, obwohl Geymüller selbst in Österreich kaum gewirkt hatte, sein wissenschaftliches Erbe als wertvoller Besitz in das Land seiner Geburt zurückgekehrt.
Quellen und externe Links
- ↑ https://www2.unil.ch/elitessuisses/personne.php?id=81538
- ↑ https://portal.dnb.de/opac.htm?method=simpleSearch&cqlMode=true&query=nid%3D1070584673
- ↑ https://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb11989073w
- ↑ https://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb11866085k
- ↑ https://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb12732459h
- ↑ https://portal.dnb.de/opac.htm?method=simpleSearch&cqlMode=true&query=nid%3D1187000698
- ↑ https://data.bnf.fr/fr/12247787/hermann_egger/
Bibliografie
Werke
- Geymüller, Heinrich von: Notizen über die Entwürfe zu St. Peter in Rom. Karlsruhe: Müller’sche Hofbuchhandlung 1868, 34.
- Geymüller, Heinrich von: Die ursprünglichen Entwürfe für Sanct Peter in Rom von Bramante, Raphael Santi, Fra Giocondo, den Sangallo’s u. a. m. nebst zahlreichen Ergänzungen, und einem Texte zum ersten Mal herausgegeben/Les Projets Primitifs pour la Basilique de Saint Pierre de Rome … 2 Bde. Wien/Paris: Lehmann und Wentzel/Baudry 1875-1880, 380/55. Text Deutsch und Französisch.
- Geymüller, Heinrich von: Leonardo da Vinci as Architect. In: Jean Paul Richter: The Literary Works of Leonardo da Vinci. 2 Bde. London: Sampson Low 1883, Bd. II, 25-104, Pl. LXXVII-CVI.
- Geymüller, Heinrich von: Raffaello Sanzio studiato come architetto. Milano: Hoepli 1884,113.
- Geymüller, Heinrich von, mit Carl von Stegmann: Die Architektur der Renaissance in Toscana dargestellt in den hervorragendsten Kirchen, Palästen, Villen und Monumenten nach den Aufnahmen der Gesellschaft San Giorgio in Florenz. 11 Bde. München: Bruckmann 1885-1908.
- Geymüller, Heinrich von: Les Du Cerceau. Leur vie et leur œuvre d’après de nouvelles recherches. Paris: Librairie de l’art 1887 (Bibliothèque internationale de l’art), 348.
- Geymüller, Heinrich von: Die Baukunst der Renaissance in Frankreich. 2 Bde. Bd. 1. Historische Darstellung der Entwicklung des Baustils. Stuttgart: Bergsträsser 1898. (Handbuch der Architektur 2. Theil VI, 1). Bd. 2. Struktive und ästhetische Stilrichtungen. Kirchliche Baukunst. Stuttgart: Bergsträsser 1901. (Handbuch der Architektur 2. Theil VI, 2), 676.
Fachliteratur
- Ploder, Josef: Heinrich von Geymüller und die Architekturzeichnung. Werk, Wirkung und Nachlaß eines Renaissanceforschers. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1998. (Ars viva 5), 495.
- Heinrich von Geymüller (1839-1909). Architekturforscher und Architekturzeichner. Hg. v. Josef Ploder und Georg Germann. Basel: Reinhardt 2009. (Katalog der Ausstellung Basel und Graz 2009/2010, 168.
- Ploder, Josef, Heinrich von Geymüller and the Early Projects for St. Peter’s in Rome. Architectural History between Historical Method and Creative Projection. In: Antonio Brucculeri/Sabine Frommel (Hg.): Renaissance italienne et architecture au XIX siècle. Roma: Campisano 2015. (Hautes études/histoire de l’art/storia dell’arte), 131-140, Abb. 73-83.
Autor
Josef Ploder
Onlinestellung: 26/06/2024