Émile Verhaeren, vermittelt durch Stefan Zweig: Unterschied zwischen den Versionen

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==Publikationen im Zeichen der Freundschaft mit Zweig==
==Publikationen im Zeichen der Freundschaft mit Zweig==
1904 erschien eine Sammlung Verhaerenscher Gedichte in Zweigs Übersetzung bei Schuster & Löffler in Berlin,<ref>Verhaeren 1904</ref> der Verlag hatte bereits Zweigs erste Gedichtsammlung ''Silberne Saiten'' herausgebracht. Bei dem Treffen mit Verhaeren hatte Zweig das Konzept für den Übersetzungsband entworfen, der in drei Abschnitte unterteilt war: Unter dem Titel „Heimatswelt“ wurden Gedichte über Flandern vereinigt, „Eigenwelt“ versammelte Texte der Selbstreflexion, „Allwelt“ signalisierte die finale Öffnung für die Welt an sich.
[[File:Zweig Verhaeren1 1910 - Kopie.jpg|thumb|Émile Verhaeren, Stefan Zweig, Marthe Massin und Léon Laurent in Caillou-qui-bique, 1910]] 1904 erschien eine Sammlung Verhaerenscher Gedichte in Zweigs Übersetzung bei Schuster & Löffler in Berlin,<ref>Verhaeren 1904</ref> der Verlag hatte bereits Zweigs erste Gedichtsammlung ''Silberne Saiten'' herausgebracht. Bei dem Treffen mit Verhaeren hatte Zweig das Konzept für den Übersetzungsband entworfen, der in drei Abschnitte unterteilt war: Unter dem Titel „Heimatswelt“ wurden Gedichte über Flandern vereinigt, „Eigenwelt“ versammelte Texte der Selbstreflexion, „Allwelt“ signalisierte die finale Öffnung für die Welt an sich.
   
   
In seinem gleichzeitig für das ''Litterarische Echo'' verfassten Aufsatz über Verhaeren erläuterte Zweig, dass diese Abschnitte mit den poetologischen Entwicklungsphasen des Autors korrespondierten. Laut Zweig hatte dieser sich von der naturalistischen Wiedergabe der Natur und des prallen Lebens im ländlichen Flandern zur Darstellung der Psyche mit Hilfe symbolistischer Bilder bewegt. Religiöse Motive wie das Klosterleben, Gebet und Frömmigkeit, aber auch dekadente Traumbilder und gedankliche Ausschweifungen dominierten in dieser Phase. Die schließliche Rückkehr zur ‚Gesundheit‘ setzte mit der Exploration des Lebens in der modernen Großstadt, der Industrie und Technik, der Demokratie und des Sozialismus ein. Über den Pessimismus angesichts der Probleme in der modernen Welt fand Verhaeren zur Bejahung des Lebens zurück. Insgesamt präsentiert Zweig in dem Artikel Verhaeren als typischen Germanen, seine Weltanschauung sei „spezifisch germanisch“, er selbst „beinahe ein Deutscher“<ref>Zweig 1984, S. 9 und 18</ref>. Diesen rassistischen Zugang teilte er übrigens mit anderen Vermittlern belgischer Literatur wie Otto Hauser<ref>https://explore.gnd.network/gnd/124894321</ref> und Johannes Schlaf<ref>https://www.deutsche-biographie.de/gnd118607871.html#ndbcontent</ref>.
In seinem gleichzeitig für das ''Litterarische Echo'' verfassten Aufsatz über Verhaeren erläuterte Zweig, dass diese Abschnitte mit den poetologischen Entwicklungsphasen des Autors korrespondierten. Laut Zweig hatte dieser sich von der naturalistischen Wiedergabe der Natur und des prallen Lebens im ländlichen Flandern zur Darstellung der Psyche mit Hilfe symbolistischer Bilder bewegt. Religiöse Motive wie das Klosterleben, Gebet und Frömmigkeit, aber auch dekadente Traumbilder und gedankliche Ausschweifungen dominierten in dieser Phase. Die schließliche Rückkehr zur ‚Gesundheit‘ setzte mit der Exploration des Lebens in der modernen Großstadt, der Industrie und Technik, der Demokratie und des Sozialismus ein. Über den Pessimismus angesichts der Probleme in der modernen Welt fand Verhaeren zur Bejahung des Lebens zurück. Insgesamt präsentiert Zweig in dem Artikel Verhaeren als typischen Germanen, seine Weltanschauung sei „spezifisch germanisch“, er selbst „beinahe ein Deutscher“<ref>Zweig 1984, S. 9 und 18</ref>. Diesen rassistischen Zugang teilte er übrigens mit anderen Vermittlern belgischer Literatur wie Otto Hauser<ref>https://explore.gnd.network/gnd/124894321</ref> und Johannes Schlaf<ref>https://www.deutsche-biographie.de/gnd118607871.html#ndbcontent</ref>.
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Aktuelle Version vom 2. Oktober 2025, 09:28 Uhr

Émile Verhaeren, Bleistiftzeichnung von Theo van Rysselberghe, 1907

Die Rezeption der Werke von Émile Verhaeren ist sehr eng mit dem Namen Stefan Zweig verbunden. Zweig war der wichtigste zeitgenössische Vermittler Verhaerens im deutschsprachigen Raum. Schon während seiner Jahre im Gymnasium las er den belgischen Autor. Wenig später fragte er bei Verhaeren wegen des Übersetzungsrechts für die Gedichtsammlung Les Apparus dans mon chemin an. Zuvor hatte Zweig mit Camille Lemonnier[1] und Charles van Lerberghe[2] bereits zwei andere belgische Autoren übersetzt bzw. propagiert. Im Sommer 1902 besuchte er Verhaeren erstmals, daraus ergab sich eine langjährige Freundschaft.

Publikationen im Zeichen der Freundschaft mit Zweig

Émile Verhaeren, Stefan Zweig, Marthe Massin und Léon Laurent in Caillou-qui-bique, 1910

1904 erschien eine Sammlung Verhaerenscher Gedichte in Zweigs Übersetzung bei Schuster & Löffler in Berlin,[3] der Verlag hatte bereits Zweigs erste Gedichtsammlung Silberne Saiten herausgebracht. Bei dem Treffen mit Verhaeren hatte Zweig das Konzept für den Übersetzungsband entworfen, der in drei Abschnitte unterteilt war: Unter dem Titel „Heimatswelt“ wurden Gedichte über Flandern vereinigt, „Eigenwelt“ versammelte Texte der Selbstreflexion, „Allwelt“ signalisierte die finale Öffnung für die Welt an sich.

In seinem gleichzeitig für das Litterarische Echo verfassten Aufsatz über Verhaeren erläuterte Zweig, dass diese Abschnitte mit den poetologischen Entwicklungsphasen des Autors korrespondierten. Laut Zweig hatte dieser sich von der naturalistischen Wiedergabe der Natur und des prallen Lebens im ländlichen Flandern zur Darstellung der Psyche mit Hilfe symbolistischer Bilder bewegt. Religiöse Motive wie das Klosterleben, Gebet und Frömmigkeit, aber auch dekadente Traumbilder und gedankliche Ausschweifungen dominierten in dieser Phase. Die schließliche Rückkehr zur ‚Gesundheit‘ setzte mit der Exploration des Lebens in der modernen Großstadt, der Industrie und Technik, der Demokratie und des Sozialismus ein. Über den Pessimismus angesichts der Probleme in der modernen Welt fand Verhaeren zur Bejahung des Lebens zurück. Insgesamt präsentiert Zweig in dem Artikel Verhaeren als typischen Germanen, seine Weltanschauung sei „spezifisch germanisch“, er selbst „beinahe ein Deutscher“[4]. Diesen rassistischen Zugang teilte er übrigens mit anderen Vermittlern belgischer Literatur wie Otto Hauser[5] und Johannes Schlaf[6].

Zweig ging in dem Aufsatz ferner davon aus, dass das Französische für Verhaeren eine Fremdsprache darstellte, die er „umhämmerte, bis sie sich seiner gedanklichen Wucht gefügig erwies und eigentlich eine fremde war“[7]. Unter dem ‚Umhämmern‘ sind im Klartext Neologismen und ungewöhnliche Bilder und Fügungen zu verstehen. Zweig nennt eine Reihe von Beispielen, etwa die Verben „rauquer (mit heiserer Stimme sprechen)“ und „vacarmer (etwa ‚Heidenlärm schlagen‘)“, ferner Wendungen wie „les plumes majuscules (die großbuchstabigen Federn)“ oder „les gloires médusaires (die wie versteinerten Ruhmeslieder)“[8]. Diese Sicht auf Verhaerens Sprache unterstützte Zweigs Wahl der Übersetzungsmethode. Wie auch bei Baudelaire und Verlaine entschied er sich für freie Nachdichtungen. Das führte nicht nur zu markanten Abweichungen, sondern auch zu mitunter erheblicher Vermehrung des Textumfangs. Laut Reisinger (1991) sind Zweigs bevorzugte Übersetzungsstrategien die Erweiterung und die Konkretisation, das heißt die Bewegung vom Allgemeinem zum Besonderen. Gerne wählt Zweig ausgefallenes Vokabular, hebt den Stil an, erweitert den Ausgangstext, kompliziert ihn auch, wenn er sich beispielsweise statt der naheliegenden für eine weniger geläufige Bedeutung von Wörtern entscheidet. Erkennbar ist durchgehend das Bestreben, Verhaeren einem möglichst breiten Publikum schmackhaft zu machen. In diese Richtung weist auch der Umstand, dass Zweig Verhaerens gelegentlich unverblümte Thematisierung von Sexualität und Kritik von Religion und ihren Vertretern abmildert.

Ein Vergleich Zweigs mit zwei anderen österreichischen Übersetzern Verhaerens zeigt, dass Richard Schaukal[9] sich ebenfalls Freiheiten herausnahm und danach trachtete, eine – nach konventionellen Maßstäben – möglichst poetische Version der Ausgangstexte zu liefern. Rudolf Komadina, ein junger Grazer Nietzsche-Verehrer, der einige Verhaeren-Gedichte in der Zeitschrift Die Gesellschaft veröffentlichte, hielt sich dagegen, auch im Fall drastischer Formulierungen, sehr eng an den Ausgangstext und opferte der übersetzerischen Treue sogar den Reim.[10]

Verhaeren im Insel-Verlag

Der Insel-Verlag sicherte sich die Übersetzungsrechte für Verhaerens Werke und wurde damit zu seinem akkreditierten deutschen Verlag. Dem Verlagsleiter Anton Kippenberg[11], einem glühenden Vertreter des Pan-Germanismus, kam das von Zweig gezeichnete Bild Verhaerens ideologisch sehr entgegen. 1910 erschien die dreibändige Edition, die Verhaerens Ruhm im deutschsprachigen Raum endgültig absichern sollte. Sie bestand aus Zweigs ausführlicher Biographie, einem Band von ihm übersetzter Gedichte und drei Theaterstücken (Hélène de Sparte – im selben Jahr im Rahmen der Brüsseler Weltausstellung in Max Reinhardts Inszenierung aufgeführt –, Le cloître und Philippe II).

Seine Thematisierungen der Religion trugen Verhaeren Schwierigkeiten mit der Theaterzensur ein. Als 1911 das Deutsche Volkstheater in Wien sein Stück Le cloître (Das Kloster) aufführte, verlangte sie Striche und Änderungen. In dem Drama deckt der Abt das Verbrechen eines Mönchs, der seinen Vater ermordet und sich in das katholische Kloster geflüchtet hatte. Der Stoff war an sich anstößig, zudem enthielt das Stück Szenen wie die Beichte des Mönchs, die auf der Wiener Bühne nicht – wie von Verhaeren vorgesehen –in der Kirche, sondern nur im Klosterhof stattfinden durfte. Auch die Spezifizierung ‚katholisch‘ musste vielfach unterbleiben. Zweig behauptete, die Aufführung durch seine mildernden Eingriffe in den Text ‚gerettet‘ zu haben.

Vitalismus und Germanismus bildeten eine schroffe Gegenposition zum Ästhetizismus, tatsächlich handelte Zweig Verhaeren nicht zuletzt als Alternative zum ‚Jungen Wien‘, dessen Hang zu Ästhetizismus und Dekadenz ihm, wie zum Beispiel in Die Welt von Gestern[12] nachzulesen, zuwider war. Mit dieser Ausrichtung der Wiener Literatur mag zusammenhängen, dass Verhaeren in Wien zum Unterschied von Deutschland kaum nennenswertes Echo fand. 1912 organisierte Zweig eine Lesereise Verhaerens durch Deutschland und Österreich. In Wien hielt er einen Vortrag über seine Entwicklung von Weltverachtung zu Optimismus und Lebensfreude. In einem Brief an Romain Rolland beklagte Zweig, dass keiner der prominenten Wiener Autoren zu dem Vortrag in der Kunstgalerie des bekannten Buchhändlers Hugo Heller[13] erschienen war.[14]

Ebenfalls 1912 erschien die auf Verhaerens vitalistische und religiös inspirierte Lyrik fokussierende Sammlung Hymnen an das Leben in der populären Reihe der „Insel-Bücherei“ in einer Auflage von 30.000 Exemplaren. Im selben und dem darauf folgenden Jahr folgten die Porträts Rembrandt bzw. Rubens in Zweigs Übersetzung. Sie blieben Zweigs letzte Verhaeren-Übersetzungen. Der Beginn des Ersten Weltkriegs entzweite die beiden Autoren, beide befürworteten (zumindest anfänglich) den Krieg und traten jeweils für ‚ihre‘ Kriegspartei ein. Zweig wandte sich von der Vermittlung Verhaerens, der ohnehin nur noch kurz zu leben hatte, ab und anderen literarischen Projekten zu.

Quellen und externe Links

Bibliografie

Primärliteratur

  • Zweig, Stefan: Emile Verhaeren. Frankfurt am Main: S. Fischer 1984.
  • Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt/Main: S. Fischer 2002 (zuerst 1970).

Sekundärliteratur

  • Bachleitner, Norbert: Stefan Zweig as a Mediator and Translator of Emile Verhaeren’s Poetry. In: Brussels 1900 Vienna. Networks in Literature, Visual and Performing Arts, and other Cultural Practices. Hg. v. Piet Defraeye, Helga Mitterbauer, and Chris Reyns-Chikuma. Leiden, Boston: Brill 2022, S. 140–167.
  • Reisinger, Roman: Stefan Zweig als Übersetzer Verhaerens: Zum Selbstverständnis eines ‚poète-traducteur‘ und zu seinen Übersetzungsverfahren im Bereich der lyrischen Bildwelt. In: Österreichische Dichter als Übersetzer. Salzburger komparatistische Analysen. Hg. v. Wolfgang Pöckl. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1991, S. 239–265.
  • Verhaeren, Émile: Ausgewählte Gedichte. Berlin: Schuster & Löffler 1904.

Autor

Norbert Bachleitner

Onlinestellung: 16/09/2025