Stefan Zweig

Aus decaf-de
Stefan Zweig (1881-1942)

Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig (1881–1942) unterhielt zahlreiche freundschaftliche, intellektuelle und berufliche Verbindungen mit Frankreich. Dank seines internationalen beruflichen Netzwerks und seiner Übersetzungstätigkeit hat sich dieser Wiener Autor jüdischer Herkunft sein Leben lang für den Kulturaustausch zwischen Frankreich und den deutschsprachigen Ländern eingesetzt.

Biografie

Schon in der frühen Kindheit reist Stefan Zweig regelmäßig nach Paris, was sich durch seine Familienbande mit der französischen Hauptstadt ergibt, wo eine seiner Tanten namens Brettauer wohnhaft ist. Ab 1902 weilt er mehrmals dort, aber erst 1904, nach der Verteidigung seiner Doktorarbeit über Hippolyte Taine[1] (Die Philosophie des Hippolyte Taine, 1904) lässt sich Stefan Zweig sechs Monate in Paris nieder, wo er an der Seite von Alphonse Lemerre[2] (1838–1912), Verlaines französischem Verleger, seine ersten Schritte als Übersetzer macht. Zweig entwickelt so sein erstes literarisches Netz unter den Kreisen von Schriftstellern und Künstlern dieser Epoche und knüpft tiefe Freundschaften. In diesem Rahmen begegnet er insbesondere dem Übersetzer und Schriftsteller Léon Bazalgette[3] (1873–1938), sowie Mitgliedern des Künstlerkreises „L’Abbaye de Créteil“[4], dem u.a. Jules Romains[5] (1885–1972), Pierre-Jean Jouve[6] (1887–1938), René Arcos[7] (1881–1959) oder Georges Duhamel[8] (1884–1966) angehören, aber auch der Maler Albert Gleizes[9] (1881–1953) oder der Komponist Albert Doyen[10] (1882–1935). Der Kontakt mit diesen Künstlern lässt bei dem österreichischen Schriftsteller die Überzeugung heranwachsen, dass ein Netzwerk eine wesentliche Bereicherung der künstlerischen Tätigkeit bietet.

1917, während seines Aufenthalts in der Schweiz, sieht Zweig manche französischen Freunde wieder. So zum Beispiel Pierre-Jean Jouve, den der österreichische Schriftsteller während des Ersten Weltkriegs in Genf trifft und mit dem auch ein beruflicher Kontakt entsteht. Zusammen mit dem belgischen Graveur und Maler Frans Masereel[11] (1889–1972), einem anderen guten Freund Zweigs, kommt es zu einer gegenseitigen Kooperation. Die drei Freunde engagieren sich auch beim internationalen Roten Kreuz an der Seite des französischen Schriftstellers Romain Rolland (1866–1944), zu dieser Zeit Angelpunkt des Pazifismus in der Schweiz. Romain Rolland wird für Zweig zum wahren Lehrmeister, zumindest bis in die frühen dreißiger Jahre, als Rolland, ein Weggefährte des Kommunismus, sich weiterhin öffentlich zum stalinistischen Regime bekennt, was zu Spannungen mit Zweig führt. Bevor es zur ideologischen Entfernung zwischen den beiden Freunden kam, war Zweig darum bemüht, durch die Übersetzung von Werken seines Freunds aus Villeneuve die Ausstrahlung seiner Literatur zu fördern. Unter dem Titel Romain Rolland. Der Mann und das Werk (1921, französische Übersetzung von Odette Richez, 1929) widmet er ihm sogar eine Biographie, die sowohl sein literarisches Wirken als auch sein pazifistisches Engagement würdigt.

Wie Romain Rolland setzt Stefan Zweig sein pazifistisches Engagement nach dem Krieg weiter. Letzteres konkretisiert sich nicht wie bei manchen französischen Freunden durch militante politische Aktion im Rahmen von Organisationen, sondern durch das Übersetzen von Literatur, das sich der Kulturvermittlung im europäischen Raum widmet. So entsteht in Zusammenarbeit mit dem Insel Verlag (Leipzig) das Projekt „Bibliotheca Mundi“, eine Reihe, die sich zum Ziel setzt, unter den Klassikern der europäischen Literatur ausgewählte Autoren zu veröffentlichen, unter ihnen Baudelaire für Frankreich. Die Absicht, die französische Literatur dem deutschsprachigen Publikum zu erschließen, ist eine Konstante bei Zweig, hatte er doch seit 1900 in der Literaturzeitschrift Die Gesellschaft Gedichte von Baudelaire und Sensations von Rimbaud veröffentlicht. Zweig übersetzt auch mehrmals Gedichte von Paul Verlaine, widmet ihm Essays, eine Anthologie, sowie eine Biographie. Zwischen 1913 und 1922 arbeitet er an der Veröffentlichung von Verlaines gesammelten Werken. 1908 verfasst Zweig einen Text über Balzac, der zunächst als Einleitung zur 15 Bände umfassenden Werkausgabe der Comédie humaine bei Insel dient, bevor er neben den Dickens und Dostojewski gewidmeten Essays im Sammelband Drei Dichter (Trois maîtres) erscheint. Er hoffte, dem französischen Schriftsteller eine umfassende Biographie zu widmen, nachdem er 1939 in Bath einen Entwurf verfasst hatte. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs machte Zweigs Ausreise in die Vereinigten Staaten ohne sein Manuskript dieses Projekt zunichte.

Zweig setzt sich auch für deutschsprachige Autoren ein, die in Frankreich veröffentlicht werden wollen. Dank seines internationalen Netzwerks wird er zum Vermittler zwischen französischen Verlagshäusern und österreichischen Schriftstellern. Als Beispiel sei Joseph Roth (1894–1939) angeführt, der seinen Freund und Protektor immer wieder darum bittet, bei französischen Verlagen Vorschusszahlungen oder bessere Verträge auszuhandeln.

Dieses Engagement für die deutsch-französische Kulturvermittlung zeigt sich auch in seiner eigenen literarischen Arbeit. Seit seiner Dissertation, bis zu seinem letzten unvollendeten, posthum (1942) fragmentarisch erschienenen, Montaigne gewidmeten Werk, säumen bedeutsame französische Künstler und Dichter Zweigs großartige literarische Laufbahn wie Meilensteine. Dadurch hat er zu deren Würdigung und Ruhm genauso stark beigetragen wie sie ihn in literarischer und philosophischer Hinsicht inspiriert und beeinflusst haben. Einen Tag vor seinem Selbstmord beginnt er im brasilianischen Exil einen Text über Montaigne. Ausgehend von seiner Lektüre der Essais (1533–1592), entwirft der österreichische Schriftsteller eine Biographie nach dem Modell der während der Exiljahre anderen Intellektuellen gewidmeten Werke (Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam, 1934, und Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt, 1936). Es geht nicht – wie bei Romain Rolland oder Verlaine – darum, Leben und Werk von Montaigne darzustellen, sondern – im Falle Montaignes – einen Aspekt seiner Philosophie hervorzuheben: Wie kann man bei einem Identifikationsprozess des Biographen mit der von ihm dargestellten Persönlichkeit seine innere Freiheit und sein Gewissen bewahren? Montaigne kommt somit exemplarische Bedeutung zu, genauso wie Erasmus und Castellio für Zweig den Kosmopolitismus und Humanismus verkörperten, und Rolland den Pazifismus und den Geist Europas darstellte. Alles Figuren, an die Zweig sich in einer Zeit großer Isolierung zu klammern versucht.

Zweig hat auch einige Aspekte der Geschichte Frankreichs untersucht, die seiner Ansicht nach epochale Meilensteine der Weltgeschichte darstellen, und die er in Sternstunden der Menschheit (1927, französische Übersetzung: Les Très Riches Heures de l’Humanité, 1929) romanesk behandelt. Unter den Augenblicken, die er als dezidierte Wende im Lauf der globalen Geschichte betrachtet, wählt der Autor die „Marseillaise“ und nimmt sich vor zu erzählen, wie die französische Nationalhymne geschrieben wurde („Das Genie einer Nacht“, « Le Génie d’une nuit : La Marseillaise, 25 avril 1792 »), und wie die Niederlage der napoleonischen Truppen in Waterloo verlief („Die Weltminute in Waterloo“, « La Minute mondiale de Waterloo : Napoléon, 18 juin 1815 »). Zweigs Konzeption der französischen Geschichte konzentriert sich somit wesentlich auf die Zeit der französischen Revolution und des 1. Kaiserreichs (Premier Empire), wie dies aus den Joseph Fouché[12] (Joseph Fouché. Bildnis eines politischen Menschen, 1929) und Marie-Antoinette (Marie-Antoinette: Bildnis eines mittleren Charakters, 1932) gewidmeten Biographien hervorgeht. Dies trifft auch auf die meisten literarischen Persönlichkeiten zu, denen er biographische Essays widmet, sei es Balzac, Stendhal oder die Dichterin Marceline Desbordes-Valmore[13] (1786–1859).

Über bestimmte Episoden und Figuren der französischen Geschichte schreiben erlaubte es, so Zweigs Ansicht, dem Diskurs der Nazipropaganda, die übrigens die „Ideen von 1789“ verwarf, die in Hitlers Augen für die Übel der Moderne und den Untergang der deutschen Nation verantwortlich seien, eine andere Konzeption entgegenzustellen. Frankreich und seine republikanische politische Tradition verkörpern so in Zweigs Schriften ein „Anti-Deutschland“. Als erstes Land, das deutschsprachige Exilanten zwischen 1933–1939 aufnimmt, wird Frankreich zu einer „geistigen Heimat“ (« patrie morale ») für zahlreiche deutsche Denker, die in der Philosophie der Aufklärung und in deren Erbe ein Denkmuster suchen, auf das sich eine ideelle Opposition gegenüber dem Naziregime stützen kann.

Frankreich repräsentierte für Zweig, dessen Exilländer Großbritannien, die Vereinigten Staaten und schließlich Brasilien (1924–1942) waren, vor allem eine „Literaturheimat“ (« patrie littéraire »). Jedenfalls richtet er sich mehrmals im Lauf des Jahres 1940 an sein französisches Publikum, mit Vorträgen, Presseerklärungen und einer für Radio Paris aufgenommenen Ansprache. Es geht ihm einerseits darum, seine pazifistischen und europäischen Werte zu vermitteln, andererseits aber auch darum, all diejenigen zu unterstützen, „die nicht sprechen können“ wegen der Unterdrückung durch das Hitlerregime (« Pour ceux qui ne peuvent pas parler », Erstveröffentlichung unter dem Titel „Das große Schweigen“ in Das Neue Tage-Buch, Paris, 4. Mai 1940, Aufnahme am 24. April 1940 in den Studios von Radio Paris). Darin macht er eine Bestandsaufnahme der in Europa von Millionen Menschen erlittenen Schrecken und mahnt zugleich Frankreich, das gegen Nazideutschland Krieg führt, wachsam zu bleiben.

Der interkulturelle Austausch repräsentierte für Stefan Zweig die beste Möglichkeit, dem Nationalismus entgegenzutreten, der seiner Meinung nach für die beiden Weltkriege verantwortlich war. Mit seinem Wunsch, dank Kultur und Kunst die Völker miteinander zu verbinden, trug der österreichische Schriftsteller, Biograph und Übersetzer unablässig dazu bei, in einer pazifistischen und europäischen Perspektive den kulturellen Dialog zwischen Frankreich und dem deutschsprachigen Raum zu fördern.

Quellen und externe Links

Bibiliografie

Texte von Stefan Zweig

  • Zweig, Stefan: Paul Verlaine. In: Das Magazin für Literatur 1902.
  • Zweig, Stefan: Gedichte von Paul Verlaine. Eine Anthologie der besten Übertragungen. Berlin, Leipzig: Schuster & Loeffler 1902.
  • Zweig, Stefan: Verlaine. Berlin, Leipzig: Schuster & Loeffler 1905.
  • Zweig, Stefan: „Balzac“. In : La Comédie humaine. 15 Bänden. Leipzig: Insel 1908.
  • Zweig, Stefan: Drei Meister: Balzac–Dickens–Dostojewski. Band 1. Leipzig: Insel 1920.
  • Zweig, Stefan: Marceline Desbordes-Valmore. Das Lebensbild einer Dichterin. Leipzig: Insel 1920.
  • Zweig, Stefan: Romain Rolland. Der Mann und das Werk. Frankfurt am Main: Rütten und Leoning 1921.
  • Zweig, Stefan: „Paul Verlaines Lebensbild“. In: Paul Verlaines Gesammelte Werke in zwei Bänden. Leipzig: Insel 1922.
  • Zweig, Stefan: Drei Dichter ihres Lebens. Casanova–Stendhal–Tolstoi. Band 3. Leipzig: Insel 1928.
  • Zweig, Stefan: Joseph Fouché. Bildnis eines politischen Menschen. Leipzig: Insel 1929.
  • Zweig, Stefan: Marie-Antoinette: Bildnis eines mittleren Charakters. Leipzig: Insel 1932.
  • Zweig, Stefan: „Das große Schweigen“. In : „Erst wenn die Nacht fällt“. Politische Essays und Rede. 1932-1942. Unbekannte Texte. Band 1. Krems an der Donau: Roesner 2016, S. 103–111.
  • Zweig, Stefan: Montaigne. In: Europäisches Erbe. Frankfurt am Main: Fischer 1990.

Ins Französische übersetzte Texte von Stefan Zweig

  • Zweig, Stefan: Romain Rolland. Sa vie. Son œuvre, übers. von Odette Richez. Paris: Éditions Pittoresques 1929.
  • Zweig, Stefan: Trois poètes de leur vie: Stendhal, Casanova, Tolstoï, übers. von Henri Bloch undAlzir Hella. Volume 3. Paris: Le Libre de Poche 2011 (Stock 1937).
  • Zweig, Stefan: Trois Maîtres: Balzac, Dickens, Dostoïevski, übers. von Henri Bloch et Alzir Hella. Volume 3. Paris: Le Libre de Poche 2011 (Grasset 1949).
  • Zweig, Stefan: Paul Verlaine, übers. von Corinne Gepner. Paris: Le Castor Astral 2015.
  • Zweig, Stefan: Montaigne, übers. von Corinne Gepner. Paris: Le Livre de Poche 2019.
  • Zweig, Stefan: Marceline Desbordes-Valmore, übers. von Alzir Hella. Paris: Le Livre de Poche 2020.
  • Zweig, Stefan: „Pour ceux qui ne peuvent pas parler“. In: L’esprit européen en exil: essais, discours, entretiens (1933–1942), übers. von Jacques Le Rider. Paris: Bartillat 2020, S. 337–343.
  • Zweig, Stefan: Joseph Fouché. Portrait d’un homme politique, übers. von Jean-Jacques Pollet. Paris: Les Belles Lettres 2021.
  • Zweig, Stefan: Marie-Antoinette. Portrait d’une personne ordinaire, übers. von Jean-Jacques Pollet. Paris: Les Belles Lettres 2023.

Briefwechsel von Stefan Zweig

  • Rolland, Romain et Zweig, Stefan: Correspondance: 1910–1919, übers. von Jean-Yves Brancy und Siegrun Barat. Paris: Albin Michel 2014.
  • Rolland, Romain et Zweig, Stefan: Correspondance: 1920–1927, übers. von Jean-Yves Brancy und Siegrun Barat. Paris: Albin Michel 2015.
  • Rolland, Romain et Zweig, Stefan: Correspondance : 1928–1940, übers. von Jean-Yves Brancy et Siegrun Barat. Paris: Albin Michel 2016.
  • Roth, Joseph und Zweig, Stefan: „Jede Freundschaft mit mir ist verderblich“: Joseph Roth und Stefan Zweig. Briefwechsel 1927–1938. Zürich: Diogenes 2011.
  • Roth, Joseph et Zweig, Stefan: Correspondance, 1927–1938, übers. von Pierre Deshusses. Paris: Payot & Rivages 2013.

Sekundärliteratur

  • Battiston, Régine und Renoldner, Klemens (Hrsg.): „Ich liebte Frankreich wie eine zweite Heimat.“ Neue Studien zu Stefan Zweig. Würzburg : Königshausen & Neumann 2011.
  • Lajarrige, Jacques: „Verlaine, l’anti-démon ?“ In: Austriaca 91 (2020). Onlinestellung am 01. September 2022. Abgerufen am 24. Oktober 2024.
  • Lecorchey, Virginie: „Montaigne“ In: Austriaca 91 (2020). Onlinestellung am 01. September 2022. Abgerufen am 24. Oktober 2024.

Autor

Marion Garot Puyau

Übersetzt aus dem Französischen von Hélène Belletto-Sussel

Onlinestellung: 22/04/2025