Gastspiel der Comédie Française in Wien 1892
Im Mai 1892 fand im Rahmen der Theater- und Musikausstellung in der Rotunde[1] ein Gastspiel der Comédiens Français in Wien statt, das von einem bedeutenden Austausch zwischen den beiden Theatermetropolen am Ende des 19. Jahrhunderts zeugt.
Veranstaltung
Es handelte sich zwar um keine offizielle Tournee, da die französische Regierung es unanpassend gefunden hatte, in einer Hauptstadt des Dreibundes eine solche zu absolvieren, doch traten 16 Comédiens Français unter der Leitung Edmond Gots[2] (1822–1901) und Frédéric Febvres[3] (1833–1916) die Reise nach Wien an. Auch wenn solche Berühmtheiten wie die Tragöden Mounet-Sully und Paul Mounet, die Brüder Coquelin oder Charles Le Bargy sich nicht nach Wien begaben, waren doch viele bedeutende Schauspielerinnen und Schauspieler der Comédie Française dabei, wie Suzanne Reichenberg[4] (1853–1924), Julia Bartet[5] (1854–1941), Albert Lambert[6] (1856–1946) oder die schon erwähnten Got und Febvre. Hinzu kamen Mmes Pierson, Fayolle, Kalb, du Minil, Daubray und MM. Prud’hon, Boucher, Leloir, Truffier, Joliet und Falconnier[7].
Was das angebotene Programm jener Tournee, die vom 24. bis zum 31. Mai 1892 stattfand, anbelangt, so wurden eher ältere Repertoirestücke gewählt, wohl weil sie auch in Wien als bekannt galten. Am ersten Abend wurden Mussets Nuits d’octobre und Molières Femmes savantes gegeben. Selbst wenn die Kritik einerseits die Leistungen von Got, Febvre und Mme Reichenberg lobte, äusserte sie sich andererseits einstimmig gegen die veraltete Form der Darstellung und gegen den singenden Ton, in dem die Alexandriner deklamiert wurden (etwa in der Wiener Abendpost vom 25. Mai 1892). Dieses halben Erfolgs war sich auch der Schauspieler Got wohl bewusst, der im zweiten Band seines Journal von „un grand public et un effet… très poli[8]“ spricht. Am zweiten Tag (am 25. Mai) fanden dann Le Bonhomme jadis von Henri Murger[9] und Il ne faut jurer de rien von Musset – wie die meisten Kritiker berichten – nur wenig Beachtung: Die Neue Freie Presse und die Deutsche Zeitung vom 26. Mai betonen etwa, dass nur Got als Abbé und Leloir in Murgers Stück lebhaften Beifall ernteten.
Am 26. Mai wurden Jules Sandeaus[10] Mademoiselle de la Seiglière und Molières Le Dépit amoureux gezeigt. Diesmal überragte offensichtlich die Tragödin Julia Bartet all ihre Kollegen, wie aus dem Wiener Tagblatt vom 27. Mai hervorgeht, während die Deutsche Zeitung an diesem Tag einen Wendepunkt feststellte: „Heute erst hat die Comédie Française sich das Herz unseres Publicums völlig erobert.“ Am vierten Abend kam Mademoiselle de Belle-Isle vom älteren Dumas[11] auf die Bühne. Darauf folgte, am 28. Mai, Adrienne Lecouvreur von Scribe und Ernest Legouvé[12], ein Stück, in dem die legendäre Schauspielerin Rachel[13] schon 1849 in Paris geglänzt hatte. Am 29. Mai kamen Marivaux’ Le Jeu de l’amour et du hasard und Molières Le Médecin malgré lui auf die Bühne, die laut Got nur „demi-salle“ machten.
Am folgenden Tag aber, am 30. Mai, der als Höhepunkt des Wiener Gastspiels erscheint, wurde zuerst, unter der Schirmherrschaft der Fürstin von Metternich, eine ‚garden party‘ im Sacher organisiert, bei der Comédiens Français und Burgschauspieler einander kennenlernten und miteinander fotografiert wurden, z. B. Got mit Sonnenthal[14] und Febvre mit Josef Lewinsky[15]. Am selben Abend fand in Anwesenheit Kaiser Franz Josephs[16] und der kaiserlichen Familie die Aufführung von Denise statt, die laut Febvre einen „succès de larmes[17]“ erzielte: „Belle et glorieuse soirée pour Dumas et la Comédie-Française[18]“. Das Fremdenblatt vom 31. Mai berichtet außerdem, dass das Publikum insbesondere Julia Bartet, aber auch Got und Blanche Pierson[19] Ovationen darbrachte. Begrüßt wurde in der Wiener Presse schließlich, dass die Comédiens Français zum ersten Mal seit dem Anfang ihrer Tournee einen modernen Autor (Dumas den jüngeren) spielten. Das Gastspiel endete am 31. Mai mit Pépa, einem Stück von Henri Meilhac[20], das in Frankreich schlecht aufgenommen worden war, in Wien aber, laut der Neuen Freien Presse vom 1. Juni, besonders erfolgreich war.
Auch wenn man in den hinterlassenen Schriften der Verwalter der Comédie keinen einzigen Bezug auf dieses Gastspiel der Comédiens Français in Wien und allgemeiner auf das Burgtheater findet, ist diese Abwesenheit keineswegs synonym für ein Desinteresse der französischen Theaterleute an ihrem österreichischen Pendant. Einen offenkundigen Beweis dafür liefern die Bemerkungen des einflussreichsten französischen Theaterkritikers dieser Zeit, Francisque Sarcey (1827–1899), über das Gastspiel der Comédiens Français in Wien 1892. Zu der ersten Vorstellung im Ausstellungstheater und allgemeiner zu den Wienerinnen und Wienern findet er höchst anschauliche Worte: „Elle a été bien belle, cette première représentation. Toute l’aristocratie de Vienne était là; beaucoup de jolies femmes. Les Viennoises sont presque toutes de physionomie animée et piquante; les hommes n’ont rien de cette lourdeur qu’on prête, chez nous, aux Allemands. Ils sont vifs, empressés, aimables. Il semble que, chez eux, il y ait de la cordialité dans l’air. Je me serais cru à Paris, en une soirée de gala.[21]“ Was die Wiener Zeitungskritiker betrifft, so finden sich bei Sarcey vielsagende Bekenntnisse zu dem Ungleichgewicht zwischen Wien und Paris: „On a bien du goût et bien de l’esprit à Vienne. Vraiment, quand je compare la compétence avec laquelle ils parlent de notre théâtre, et notre ignorance du leur, j’entre en confusion et je rougis de honte.[22]“ Sarcey, der im selben Zug (dem Orient-Express) wie die Comédiens Français nach Wien gereist war, begnügte sich doch nicht damit, den Vorstellungen der Comédiens am Ausstellungstheater beizuwohnen und sie zu kommentieren, sondern besuchte auch das Burgtheater, wo er in einer Darstellung des ersten Teils von Shakespeares Heinrich IV. die Schauspielkunst des Wiener Ensembles bewundern konnte. Insbesondere erschien ihm Bernhard Baumeister[23] als einer der besten Schauspieler, die er je auf einer Bühne gesehen habe, und er verglich Sonnenthals Kunst mit der von Frédéric Febvre aus der Comédie Française[24].
Schließlich muss noch hinzugefügt werden, dass das Gastspiel der Comédie Française in Wien 1892 keine Ausnahme war, denn viele bedeutende Comédiens Français gastierten in Wien schon ab Mitte des 19. Jahrhunderts: Rachel, die ‚Göttin der Tragödie‘ genannt, gastierte dort im Jahre 1850; Got gastierte gleichfalls in Wien 1875 zu wohltätigen Zwecken; Sarah Bernhardt spielte 1882, 1887 und 1908 am Theater an der Wien[25]; im November 1882 lud der sehr frankophile Journalist Moritz Szeps[26] Coquelin aîné[27] dazu ein, in Wien (Carltheater) zu gastieren, und im Sommer 1897 kehrte Coquelin mit André Antoine nach Wien zurück. Der berühmte Tragöde Mounet-Sully[28] begab sich 1894 ebenfalls nach Wien und spielte Oedipe am Carltheater. Zu seiner Leistung schrieb Hugo Wittmann in der Neuen Freien Presse vom 21. Januar 1894: „Dieser Franzose gehört zu den bedeutsamsten und glänzendsten Erscheinungen in der modernen Schauspielkunst.“ Interessanterweise bleibt Mounet-Sully in den Schriften Hermann Bahrs auch eine wiederkehrende Autorität im Bereich der modernen Schauspielkunst, z. B. in Wiener Theater (1892–1898), wo Bahr die „paar wahrhaft großen Dinge“ der modernen Schauspielkunst erwähnt, „die nimmer in der Erinnerung vergehen, wie die Adelheid der Wolter, die Marguerite der Bernhardt, die Clotilde der Duse, der Hamlet des Mounet, der Romeo des Kainz.[29]“ Bahrs Vergleich von Sarah Bernhardt[30] und Mounet-Sully mit so renommierten Schauspielern wie Charlotte Wolter[31], Eleonora Duse und Josef Kainz[32] zeugt von seiner lebhaften Bewunderung für die Kunst der französischen Darsteller. Seiner Ansicht nach gehören sie ins Pantheon der modernen Schauspielkunst.
Quellen und externe Links
- ↑ Couturier 2018
- ↑ https://www.comedie-francaise.fr/fr/artiste/edmond-got
- ↑ https://www.comedie-francaise.fr/fr/artiste/frederic-febvre
- ↑ https://www.comedie-francaise.fr/fr/artiste/suzanne-reichenberg
- ↑ https://gallica.bnf.fr/blog/28102021/julia-bartet-la-divine
- ↑ https://www.comedie-francaise.fr/fr/artiste/albert-lambert
- ↑ Febvre 1896, S. 175–176
- ↑ Got 1910, S. 273
- ↑ https://www.universalis.fr/encyclopedie/henri-murger/
- ↑ https://www.sh6e.com/activites/histoire-du-6eme/les-personnalites/jules-sandeau-1811-1883-illustre-inconnu-georges-sand
- ↑ https://www.dumaspere.com/
- ↑ https://www.academie-francaise.fr/les-immortels/ernest-legouve
- ↑ https://www.comedie-francaise.fr/fr/artiste/mlle-rachel
- ↑ https://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_s/Sonnenthal_Adolf_1832_1909.xml
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Josef_Lewinsky
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Franz_Joseph_I._(Österreich,_Kaiser)
- ↑ Febvre 1896, S. 179
- ↑ Ebd., S. 181
- ↑ https://www.comedie-francaise.fr/fr/artiste/blanche-pierson
- ↑ https://www.universalis.fr/encyclopedie/henri-meilhac/
- ↑ Sarcey 1900, S. 388
- ↑ Ebd., S. 386
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Bernhard_Baumeister
- ↑ Ebd., S. 388
- ↑ Yates 1996, S. 178
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Moritz_Szeps
- ↑ https://www.comedie-francaise.fr/fr/artiste/coquelin-aine
- ↑ https://www.comedie-francaise.fr/fr/artiste/mounet-sully
- ↑ Bahr 1899, S. 223
- ↑ https://www.comedie-francaise.fr/fr/artiste/sarah-bernhardt
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Charlotte_Wolter
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Josef_Gottfried_Ignaz_Kainz
Bibliografie
- Couturier, Claire: Une fin de siècle viennoise entre invention d’une tradition, tensions esthétiques et science de la musique : l’exposition internationale de théâtre et de musique de 1892. Paris: Diss. Univ. Sorbonne Nouvelle 2018.
- Febvre, Frédéric: Journal d’un comédien. Paris: Ollendorff 1896 (Band 2).
- Got, Edmond: Journal. Paris: Plon 1910 (Band 2).
- Lacheny, Marc: Wechselseitige Diskurse über Burgtheater und Comédie Française von Laube (1849) zu Wildgans. In: Sigurd Paul Scheichl / Karl Zieger (Hg.): Österreichisch-französische Kulturbeziehungen 1867-1938. France-Autriche : leurs relations culturelles de 1867 à 1938. Innsbruck: innsbruck university press 2012, S. 61–90.
- Sarcey, Francisque: Quarante ans de théâtre. Paris: Bibliothèque des Annales 1900 (Band 1).
- Yates, W. Edgar: Theatre in Vienna. A Critical History 1776–1995. Cambridge: Cambridge University Press 1996.
Autor
Marc Lacheny
Onlinestellung: 03/10/2024