Elias Canetti

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Elias Canetti (1990)

Elias Canettis österreichische Identität ist nicht selbstverständlich, und damit stellt sich die Frage, ob und wie sie in Frankreich wahrgenommen wird. Symptomatisch ist die Reaktion der satirischen Wochenschrift Le Canard enchaîné auf Die gerettete Zunge (La langue sauvée, 1980): „M. Canetti, Espagnol juif allemand de Londres à la sauce bulgare, I presume.“ Das klingt beinahe schon wie der Katalog der präsumptiven Zugehörigkeiten des Nobelpreisträgers von 1981. Der Autor des sehr erfolgreichen Buches ist nach Le Monde ein „großer Unbekannter“. Im selben Jahr erschien ein weiterer großer Erfolg: Les voix de Marrakech. Die Rezension in Le Monde wurde dem marokkanischen Autor El Maleh anvertraut, womit der Akzent auf Canettis sephardische Herkunft gelegt wurde. Auszüge aus dem Buch waren übrigens in der israelischen Zeitschrift NOAM 2. La vie sépharade et orientale par les textes (1977) erschienen, in der Canetti sich in Gesellschaft Albert Cohens befindet, als gehörte er zur französischsprachigen Diaspora. Österreich dagegen ist von diesen Ortsbestimmungen abwesend.

Biografie

Canetti hat sich selbst 1980 in Austriaca 11 ausdrücklich „rein sprachlich schon zur Wiener Literatur: Nestroy und Karl Kraus“ gezählt und diese Zugehörigkeit in seiner Nobelpreisrede um die Namen Kafka, Musil und Broch erweitert. Das offizielle Österreich hat den damals noch wirklich Unbekannten 1962 in die Buchreihe „Das österreichische Wort“ aufgenommen und ihn 1966 mit dem „Großen österreichischen Staatspreis“ geehrt, obwohl er nie Österreicher gewesen war. Zu einem solchen wurde er posthum in der französischen Taschenbuchausgabe seiner Autobiographie (A. Michel, 1998) ernannt, in der Bulgarien als Kronland Franz Josephs I. geortet wurde. Der Nobelpreis 1981 hat eine homerische Herkunftsfrage ausgelöst: Spanien, Israel, die Türkei, Bulgarien reklamierten ihn seiner nahen oder fernen Herkunft, Deutschland, die Schweiz und Österreich der Sprache, und England seiner Staatsbürgerschaft (seit 1952) wegen. Die offizielle Ausgabe der Blendung der Nobel-Stiftung bescheinigt aber eindeutig: Österreich. 1985 wurde Canetti Ehrenbürger der Stadt Wien.

Canettis Biographie mit ihrem beständigen Orts- und Sprachwechsel erklärt diese besondere Situation: Kindheit und Jugend in Ruschtschuk, Manchester, Wien, Zürich und Frankfurt; danach Wien (1924-1938), Exil in London (1938-1972), schließlich Zürich (1972-1994). Die Mutter und die beiden jüngeren Brüder Nissim (Jacques[1]) und Georges[2] werden in der Mitte der 20er Jahre Franzosen und spielten im französischen kulturellen und wissenschaftlichen Leben bedeutende Rollen, Jacques als „Pygmalion“ der großen französischen Chansonnier(e)s, Georges als eminenter Forscher am Institut Pasteur. Canetti meinte, Georges sei sogar physiognomisch zum Franzosen geworden. Die Familie sponsort heute den Preis „Georges, Jacques und Elias Canetti“ für junge Forscher am Institut Pasteur. Ein Spazier- und Radweg in der Mitte des Boulevard de Clichy in Paris ist heute nach Jacques Canetti benannt.

„Ein Dichter braucht Ahnen“

Canetti sah sich selbst als einen Autor, der in den beiden Sprachen des jüdischen Exils, der deutschen und der spanischen, lebte. „Don Quichote“ ist seinem Roman Die Blendung eingeschrieben, aber auch die französische Literatur hat prägend auf ihn eingewirkt. Er hat Die Blendung unter dem stilistischen Diktat von Stendhals Le Rouge et le Noir verfasst. Stendhals Autobiographie La vie de Henry Brulard ist der Geretteten Zunge eingeschrieben, und in dem Kapitel über die Unsterblichkeit in Masse und Macht gilt Stendhal als Kontrapunkt zu Canettis größtem französischen Feind, dem Töter Napoleon. Zu seinen Erzfeinden neben Nietzsche und Hobbes gehört der Anti-Aufklärer Joseph de Maistre[3], der in den Soirées de Saint-Pétersbourg[4] „les divines guerres“ und den Henker als Priester verklärte. Canettis „Aufzeichnungen“, das „Zentralmassiv seines Werks[5]“, gehören in die Tradition der europäischen Aphoristik, insbesondere in die der französischen „Moralisten“ von Montaigne[6] über La Bruyère[7], La Rochefoucauld[8], Vauvenargues[9], Joubert[10] bis Jules Renard[11]. Eine Sonderstellung kommt Pascal und seiner Totenmaske zu. Canetti hat selbst seine Position als „Ehe zwischen Pascal und Lichtenberg“ definiert. Eine Kuriosität in Canettis Bibliographie ist sein englischsprachiger Vortrag über Kafka, Joyce und Proust, eine Brotarbeit aus dem Jahr 1948, die ihm eine zweimalige begeisterte Lektüre der Recherche du temps perdu abgezwungen hatte.

Rezeption

Canettis Rezeption in Frankreich ist wechselhaft. Die Blendung wurde 1949 nach dem Erfolg der englischen Übersetzung von 1947 unter dem Titel La Tour de Babel (Grenoble: Arthaud) ins Französische übersetzt und dank Raymond Queneau mit dem „Grand Prix du Club français du livre“ ausgezeichnet. Spätwirkung war paradoxerweise, dass Canettis Lektor Jean Contou den auf Autorensuche befindlichen Direktor des Hanser-Verlags mit der Behauptung provozierte, „den bedeutendsten Autor deutscher Zunge[12]“ nicht zu kennen, und damit indirekt die Canetti-Renaissance im deutschsprachigen Raum mitbewirkte. Im April 1968 erschien die zweite Ausgabe der Blendung, diesmal unter dem internationalen Titel Auto-da-fé im Verlag Gallimard. Das Medienecho war durch die „Maiereignisse“ gestört, und die Rezension von Claude David[13] in Le Monde vom 17. August, „Faut-il brûler les livres?“ betitelt, war ein Zeugnis für die Panik im universitären Establishment, das in Canetti einen Spießgesellen der kulturzerstörerischen Tendenzen der Studentenrevolte sah. Canetti hat den Mai 1968 in Paris intensiv beobachtet und miterlebt. Die anfängliche euphorische Identifikation[14] wich aber auch schroffer Kritik, z.B. als Cohn-Bendit Tote im Fernsehen „in revolutionäres Kapital[15]“ verwandelte. Der Experte der Macht war ein Niemand in diesem Massenereignis.

Das erklärt sich aus dem traumatischen Misserfolg der Übersetzung von Masse und Macht 1966. Bis heute hält Pierre Nora[16] an seiner Überzeugung fest, mit Masse und Macht ein geniales Werk für seine eben gegründete „Bibliothèque des sciences humaines“ gefunden zu haben, muss aber zugestehen, dass der krasse Misserfolg durch den hybriden, alle Fachgrenzen verachtenden Charakter von Canettis Methode erklärbar war. Dazu kam Canettis souveräne Missachtung von Marx, [Sigmund Freud|Freud]] und Lévi-Strauss. Gleichzeitig triumphierte in der Reihe Foucaults Les Mots et les Choses. Für Masse et puissance gingen die Kritiken bis zur Verhöhnung. Nora sah sich als Herausgeber gezwungen, eine Apologie des „Tocqueville du vingtième siècle“ zu veröffentlichen. Canetti hat die „Systemverfallenheit der Franzosen“ als Ursache gesehen. 1966 und 1968 hätten Sternstunden für das Buch sein können.

Als Autor des Kafka-Essays L’autre procès (1972) und des Aphorismusbandes Le territoire de l’homme blieb Canetti ein hochgeschätzter Außenseiter. Der Publikumserfolg setzte mit Les voix de Marrakech und La langue sauvée (beide 1980) ein. Nach dem überraschenden Nobelpreis wurden alle Bücher Canettis, sogar die bisher abgelehnten Dramen (Noce, Comédie des vanités, Les sursitaires) regelmäßig übersetzt. Aber der Bühnenerfolg blieb aus. Die Blendung wurde 1983 sogar ins Programm der Concours Agrégation und CAPES aufgenommen. Das akademische Interesse wuchs, Dissertationen und eine Reihe von Kolloquien zeugen davon. Hervorzuheben ist die Ausstellung „Canetti, l’ennemi de la mort“ im Herbst 1995 im Centre Pompidou, die durch eine Reihe von Vorträgen und Debatten mit französischen Intellektuellen eingerahmt werden sollte. Sie sind alle dem damaligen Generalstreik zum Opfer gefallen. Zum 100. Geburtstag Canettis veranstaltete die französische Nationalbibliothek ein internationales Symposium, gekoppelt mit einer Canetti-Woche des Senders France Culture.

Trotzdem ist Canetti nie eine Figur der medialen oder institutionellen Öffentlichkeit geworden, und er hat anders als Bernhard oder Handke in keiner der Österreich betreffenden politischen Polemiken in Frankreich das Wort ergriffen.

Quellen und externe Links

Bibliografie

Werke (Auswahl)

  • Canetti, Elias: Auto-da-fé. Paris: Gallimard 1968.
  • Canetti, Elias: Masse et puissance. Paris: Gallimard 1966.
  • Canetti, Elias: Écrits autobiographiques. Paris: Albin Michel/Pochothèque, 1998. Enthält die drei autobiographischen Bände, sowie Le territoire de l’homme und Le cœur secret de l’horloge.
  • Canetti, Elias: Le livre contre la mort. Paris: Albin Michel, 2018.
  • Canetti, Elias: Ich erwarte von Ihnen viel. Briefe 1932-1994. München: Hanser 2018.

Fachliteratur

  • Geoffroy, Catherine und Stieg, Gerald (Hg.): L’ennemi de la mort. Paris: Centre Pompidou 1995.
  • Hanuschek, Sven: Elias Canetti. Biographie. München: Hanser 2005.
  • Agard, Olivier: Elias Canetti. L’explorateur de la mémoire. Paris: Belin 2003.
  • Valentin, Jean-Marie und Stieg, Gerald (Hg.): Ein Dichter braucht Ahnen. Elias Canetti und die europäische Tradition. Berne et al.: Lang 1997.
  • Austriaca 11, 1980: Hommage à Elias Canetti. URL: https://www.persee.fr/issue/austr_0396-4590_1980_num_11_1
  • Austriaca 61, 2005: Elias Canetti à la Bibliothèque nationale de France. URL: https://www.persee.fr/issue/austr_0396-4590_2005_num_61_1

Autor

Gerald Stieg

Onlinestellung: 30/09/2024