Karl Kraus

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Karl Kraus

Österreichischer Satiriker, von 1899-1936 Herausgeber der Zeitschrift Die Fackel (F), die er ab 1910 allein redigierte und schrieb. Sie ist die Quelle aller wichtigen Buchpublikationen Kraus’. Das zentrale Objekt der „Antizeitung“ ist der Kampf gegen die „schwarze Magie“ der Presse, verkörpert in der liberalen Neuen Freien Presse und ihrem Chefredakteur Moriz Benedikt[1].

Kraus und Frankreich

Die am 1. April 1899 gegründete Zeitschrift hatte ein französisches Vorbild, die satirische Zeitschrift La Lanterne von Henri Rochefort[2]. Schon im ersten Jahrgang der Fackel ist Frankreich allgegenwärtig, denn Kraus hatte drei Artikel des deutschen Sozialistenführers Wilhelm Liebknecht zur Affaire Dreyfus veröffentlicht, die ein bedeutendes Echo in den französischen Medien auslösten.

Liebknecht hielt wie ein Teil der französischen Linken (Jules Guesde[3], Édouard Vaillant[4], Antoine Hamon) Dreyfus für schuldig und sah in der Causa Dreyfus ein Komplott der internationalen liberalen Presse. Sein Artikel hatte in Frankreich eine doppelte Resonanz: einerseits wurde er von der „Action Française“ in 100 000 Exemplaren verbreitet und von der nationalistisch-antisemitischen Presse (z.B. Drumont[5], aber auch Rochefort) gefeiert, andererseits spiegelte er die Spaltung in der Sozialdemokratie. Kraus nahm dabei eindeutig Partei für die „Vertreter des wissenschaftlichen Socialismus[6]“ Jules Guesde und Paul Lafargue[7]. Einige Zeit gab es in der Fackel sogar Inserate der von Antoine Hamon herausgegebenen Nouvelle Humanité, die Liebknecht verteidigte. Im Gegensatz dazu hat Charles Péguy[8] in seinen Cahiers de la Quinzaine Liebknecht und damit die Fackel der Ignoranz gezogen. Ironischerweise wurde im ersten großen Artikel über Kraus in Frankreich (Paul Amann, der Übersetzer Romain Rollands, in Europe 1924) Péguy als französisches Pendant zu Kraus gesehen, eine Hypothese, die auch Joseph Hanimann in seinem Peguybuch vertrat. Unter den möglichen französischen Modellen Kraus’ wurde hin und wieder auch Léon Bloy[9] und sein polemischer Furor erwähnt. Die „Affaire“ betraf auch die Person Zolas. Kraus kritisierte die Reduktion Zolas auf sein politisches Pamphlet J’accuse, während sein künstlerisches Werk von der liberalen Presse, aber selbst von Liebknecht als pornographische Schweinerei abgewertet wurde. Es ist evident, dass Kraus’ Position in Sachen Dreyfus ausschließlich von der pressekritischen Perspektive der Fackel bestimmt ist, wodurch es in der Rezeption zu einer Allianz zwischen monarchistischen Antisemiten und „wissenschaftlichen Sozialisten“ kommen konnte. Dieses ambivalente Rezeptionsmuster wird für die Kraus-Rezeption in Frankreich bis heute paradigmatisch werden, nicht zuletzt durch Kraus’ deklarierten Antizionismus.

Karl Kraus war ein Verächter des Romans, trotzdem verteidigte er den Künstler Zola, und der Name Balzac zieht sich fast zwanzig Jahre als ‚roter Faden‘ durch die Fackel. Zunächst zitieren Mitarbeiter der Fackel, allen voran Strindberg, Balzac als beispielhaften Gegner der Presse. Schließlich veröffentlicht Kraus selbst eine 18-seitige Zitatmontage aus Romanen Balzacs, insonderheit den Verlorenen Illusionen unter dem Titel „Der Journalismus[10]“. Der Text gehörte zum Vorlesungsprogramm Kraus’, nicht zuletzt bei seiner Lesung in der Sorbonne 1926. Ein anderer Text Balzacs, „Das Wort[11]“, wurde sogar in das posthume Buch Die Sprache aufgenommen. Er nähert sich Kraus’ Sprachmystik. Diese Identifikation mit Balzac bekommt eine besondere Note durch Kraus’ Kampagne gegen den korrupten Zeitungszaren Békessy in den 20er Jahren. Er sieht sich gewissermaßen als der Balzac der Ära Békessy, als „sein Balzac[12]“. Und die Definition der Zeitungen als „Gedankenbordelle“ könnte durchaus von Kraus selbst stammen. In der Tat ließe sich die Fackel als riesiger Materialspender für eine „comédie humaine“ ansehen. Zu den Kampfgenossen der „Fackel“ gegen die Presse wählte Kraus auch Charles Baudelaire. „Worte“ von ihm[13] enthalten nicht nur scharfe Vorwürfe gegen die Zeitung, sondern auch eine abwertende Kritik Heines, die Parallelen zu „Heine und die Folgen“ aufweist. Baudelaire dient aber auch Kraus’ Kampf gegen die sexuelle Heuchelei. Als „Zeugen“ zitiert Kraus auch George Sand und Goncourt. Einen Sonderfall stellt Kraus’ Empörung über die Verwandlung von Verdun in eine Fremdenverkehrsattraktion dar.

Auf zwei völlig verschiedenen Ebenen spielt Frankreich in den 1920er Jahren eine bedeutsame Rolle. Karl Kraus wurde 1925 von Charles Schweitzer[14], Sartres Großvater, zu Lesungen an die Sorbonne eingeladen, die großen Erfolg hatten. Ende 1925 wurde er von Charles Andler[15], Charles Schweitzer und einer Reihe bekannter Professoren der Sorbonne für den Nobelpreis vorgeschlagen, ein Vorschlag, der trotz seiner Vergeblichkeit bis 1930 zwei Mal erneuert wurde. Die Einladung wurde 1926 und 1927 mit Erfolg wiederholt. Für die Einladung 1927 hat Kraus eigens „Der Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt“ geschrieben, ein fulminantes Bekenntnis zum Kosmopolitismus und gegen jede Form von Nationalismus. Auch diesmal war das Echo Spiegel divergierender Vereinnahmungen. Die Lesungen von Kraus waren von den Veranstaltern als Gegenpole zu den Einladungen Thomas Manns oder Alfred Kerrs gedacht, die den versöhnlichen „Geist von Locarno“ repräsentierten. In völliger Verkennung der österreichischen Situation wurde Kraus als Repräsentant eines österreichischen Widerstands gegen den Pangermanismus gesehen. Er diente also als politische Waffe gegen die deutsch-französische Versöhnung und sollte als Konkurrent gegen deutsche Nobelkandidaten figurieren. Ein Zufall hat es gefügt, dass Alfred Kerr, Verfasser kriegshetzerischer Gedichte, als „Friedenstäuberich[16]“ nach Paris eingeladen wurde. Dies ermöglichte Kraus, seine Polemik gegen Kerr (Pseudonym Gottlieb) nach Frankreich zu exportieren. Die junge Germanistin Germaine Goblot, die zur Familiengeschichte Kraus’ forschte, veröffentlichte einen „Gottlieb“ betitelten Artikel im Mercure de France. Die vielgelesene nationalistische und antisemitische Zeitschrift Candide reagierte darauf mit einem Artikel „Kerr und Kraus“. Dass Kraus sich nicht auf eine politische Linie festlegen ließ, zeigt seine Haltung zu Henri Barbusse[17]. Er konnte gemeinsam mit ihm und Einstein die „Rote Hilfe“ in einem Protest gegen eine Auslieferung unterstützen und sich gleichzeitig weigern, an einem von Barbusse organisierten antifaschistischen Kongress in Berlin teilzunehmen, weil dort Kerr als Redner vorgesehen war. Trotz seiner Abneigung, in einer „Reihe von Moses bis Werfel[18]“ genannt zu werden, hat er über seinen Rechtsanwalt der Neuen Freien Presse eine Berichtigung über die Liste der Intellektuellen zukommen lassen, die an dem von Rolland und Barbusse organisierten Antikriegskongress „Amsterdam-Pleyel“ (1932) ihr Land vertraten. Die Zeitung hatte fälschlicherweise die Abwesenheit eines Österreichers beklagt, vermutlich weil dieser Österreicher Karl Kraus war.

Von ungleich größerem Gewicht ist die Offenbach-Renaissance, die sich Kraus’ unerhörtem Projekt verdankt, ganze Operetten Offenbachs ohne Dekor, nur von einem Klavier begleitet, als einziger Schauspieler-Sänger auf Deutsch aufzuführen. Ein Glanzstück (die Arie der Metella aus Pariser Leben) ist erhalten geblieben, es stand übrigens auch auf dem Programm der 700. und letzten Vorlesung Kraus’. Die Offenbach-Lesungen, von der musikalischen Avantgarde (Berg, Webern, Krenek) unterstützt, wurden sogar zwischen 1930 und 1932 ins Programm der ‚Funkstunde‘ des Berliner Rundfunks übernommen und von Walter Benjamin enthusiastisch begrüßt. Zwischen 1926 und 1936 hat Kraus 14 Operetten Offenbachs in 124 Vorlesungen vorgetragen. Der „Mozart der Champs-Élysées“ war auch Sujet zweier Gedichte, doch hatte er auch die polemische Funktion, gegen „König Lehar“, die Inkarnation der Wiener Operette, vor allem aber gegen das Regietheater Reinhardts und seine „Schändungen“ Offenbachs Argumente zu liefern. Kraus zitiert u.a. eine Kritik André Gides, die Reinhardts[19] Inszenierung der Schönen Helena ironisch kritisierte[20]. Offenbachs Enkel, der Komponist Bridejont-Offenbach, dem Kraus Madame l’Archiduc in Paris privat vorgelesen hatte, reagierte mit überschwänglicher Verehrung. Diese Offenbach-Lesungen dienten wie die Nestroy-Lesungen auch der Produktion von Dutzenden von ‚Zusatzstrophen‘ zur kulturellen und politischen Aktualität, darunter zu den Wiener Auftritten von Josephine Baker[21], die Kraus in Paris kennengelernt hatte. Hinter der Offenbach-Renaissance fühlt man auch eine Spur Frankophilie, denn das „freundliche Lebensklima“ des Landes habe „eine klingende Freudenwelt“ hervorgebracht. Kraus zieht dem Anschluss an Deutschland eine Kolonisierung durch Frankreich vor[22], ein Land, das seine „Sprache wie ein Heiligtum[23]“ hüte.

Kraus-Rezeption in Frankreich

Die sehr kontroverse Krausrezeption in Frankreich blieb lange Zeit mangels Übersetzungen auf Emigranten und Germanisten beschränkt. Doch nach dem 100. Geburtstag 1974 setzte eine wirkliche Rezeption ein, markiert durch ein Cahier de L’Herne (Éliane Kaufholz), die Wien-Nummer der Zeitschrift Critique (Jacques Bouveresse) und die Übersetzung von Sprüche und Widersprüche (Dits et contredits, Roger Lewinter) im Außenseiter-Verlag Champ Libre (Gérard Lebovici), gefolgt von Pro domo et mundo und La nuit venue. Die Aphorismen wurden seither mehrmals übersetzt. Die Essays von Walter Benjamin und Elias Canetti begleiteten Textanthologien (L’Herne, Éditions Payot & Rivages). Thomas Szasz’ Karl Kraus et les docteurs de l’âme (1985), eine Satire auf die Psychoanalyse, enthielt auch eine Textanthologie. Doch es fehlten die Übersetzungen der Hauptwerke. Anlässlich der Ausstellung „Vienne, naissance d’un siècle“ erschien eine Übersetzung der Bühnenfassung der Letzten Tage der Menschheit mit einer Einleitung von Jacques Bouveresse. Eine Reihe von szenischen Lesungen daraus (Enzo Corman, Philippe Adrien, Denise Chalem) wurde mit einer Lesung von Helmut Qualtinger abgeschlossen. Ein wichtiger Wendepunkt in der Rezeptionsgeschichte war das Kolloquium „Actualité de Karl Kraus“ 1999, bei dem Pierre Bourdieu und Jacques Bouveresse die Aktualität Kraus’ als Waffe für die Medienkritik betonten. Bouveresse analysierte diese Funktion von Kraus in Schmock ou le triomphe du journalisme, ein Buch, das von vielen als Attacke gegen Le Monde gelesen wurde. Noch fehlten weiter die vollständigen Übersetzungen der Letzten Tage der Menschheit und der Dritten Walpurgisnacht. Sie erschienen erst 2005 im Verlag Agone, der sich buchstäblich zu einem Kraus-Verlag wandelte, und wurden im Collège de France vorgestellt. Kraus war in den Medien, meist polemisch, zitierbar geworden. 2014 widmete Europe Kraus eine Sondernummer. Nach einer Reihe von experimentellen Inszenierungen der Letzten Tage nahm die Comédie Française 2016 die Tragödie in ihren Spielplan auf, und Denis Podalydès machte sich in brillanten Sololesungen zum Sprachrohr Kraus’. Jacques Le Rider verfasste ein internationales akademisches Standardwerk mit dem ambivalenten Titel Karl Kraus. Phare et brûlot de la modernité viennoise (2018). Am 11. November 2018 überbrachte der österreichische Bundespräsident ein Exemplar der Letzten Tage der Menschheit als Beitrag Österreichs für die „Bibliothèque de la Paix“ des „Forum de Paris sur la paix“. Doch der Schatten der Affaire Dreyfus liegt weiter über seiner Rezeption.

Quellen und externe Links

Bibliografie

Primärliteratur

  • Die Fackel. On-Line-Edition der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
  • Kraus, Karl: Schriften. Herausgegeben von Christian Wagenknecht. Frankfurt: Suhrkamp 1987-1994 (20 Bände).
  • Knepler, Georg: Karl Kraus liest Offenbach. Erinnerungen, Kommentare, Dokumentationen. Wien: Löcker 1984.
  • Les derniers jours de l’humanité. Traduction par Jean-Louis Besson et Heinz Schwarzinger. Marseille: Agone 2005.
  • Troisième Nuit de Walpurgis. Traduction par Pierre Deshusses. Marseille: Agone 2005.

Sekundärliteratur

  • Le Rider, Jacques: Karl Kraus. Phare et brûlot de la modernité viennoise. Paris: Seuil 2018.
  • Bourdieu, Pierre: L’actualité de Karl Kraus: à propos de Karl Kraus et du journalisme. In: Actes de la recherche en sciences sociales 131–132 (2001), S. 123–126.
  • Bouveresse, Jacques: Schmock ou le triomphe du journalisme. La grande bataille de Karl Kraus. Paris: Seuil 2001.
  • Ders.: Satire et prophétie: les voix de Karl Kraus. Marseille: Agone 2007.

Autor

Gerald Stieg

Onlinestellung: 01/10/2024