Existentialismus in Österreich

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Der Eintrag gibt einen Überblick, wie das existentialistische Schreiben, Denken und Leben des Pariser Kreises um Jean-Paul Sartre nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich aufgenommen wurde, in Periodika, am Theater, an Universitäten, als Mode und Subkultur sowie als literarischer und philosophischer Impuls für österreichische Schriftsteller und Schriftstellerinnen.

Rezeption in Österreich

Den Menschen in die volle Verantwortung für seine Existenz setzend und zum steten Entwurf seiner selbst aufrufend, findet der Existentialismus in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg weit über die Grenzen Frankreichs hinaus Anklang. Die philosophisch-literarische Strömung um Jean-Paul Sartre (1905–1980) erreicht das österreichische Publikum auf zahlreichen Wegen: über Berichterstattung in alliierten und unabhängigen Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien, über übersetzte Werke im Buchhandel, in Bibliotheken und privaten Leihbüchereien, über Theateraufführungen, Rundfunk und Wochenschauen, öffentliche Vorträge in Kulturinstituten und Einrichtungen der Erwachsenenbildung, in universitären Vorlesungen und wissenschaftlichen Publikationen sowie als Mode unter Jugendlichen und in Künstlerkreisen. Auf die jeweiligen Vermittlungsinstanzen wirkt die spezifische Machtdynamik der Besatzungszeit (1945–1955) ein, die französischen Alliierten üben in den verschiedenen Transferkanälen oft entscheidende Funktionen aus.

In dem Moment, als Sartres Philosophie vom Menschen als Inbegriff seiner Möglichkeiten ganz den auf Neuanfang stehenden Zeichen der Zeit entspricht, dauert es noch Jahre, bis seine Prosa (v. a. La Nausée 1938 / Der Ekel 1949 und Le Mur 1939 / Die Mauer 1950), die literaturtheoretischen Essays und die philosophischen Schriften (v. a. L’Être et le Néant 1943 / Das Sein und das Nichts 1952) in deutscher Übersetzung vorliegen, so dass sich zum einen die Abfolge von Sartres phänomenologischer, existentialistischer und marxistisch gefärbter Werkphase nicht in der Translations- und Rezeptionschronologie spiegelt, zum anderen sich die Erstaufnahme auf dem theoretischen Fundament des stark simplifizierten Vortragstexts L’Existentialisme est un humanisme (1945) vollzieht, dessen deutsche Fassung 1947 der Europa Verlag veröffentlicht. Durch Schwierigkeiten u. a. bei der Beschaffung von Übersetzungsrechten und den bis 1948 unterbundenen Handel mit westdeutschen Verlagen erreichen das österreichische Publikum zunächst nur Primärtext-Auszüge und Kritiken in den überwiegend kurzlebigen Literatur- und Kulturzeitschriften verschiedener Ausrichtung, die nach 1945 zahlreich entstehen.

So finden sich in der avantgardistischen Literaturzeitschrift Plan (1945–1948) ebenso Übersetzungen existentialistischer Kurztexte (von Walter Ruys [Werner Riemerschmid[1]]) wie in der konservativen Kulturzeitschrift Der Turm[2] (1945–1948, von Josef Ziwutschka), in letzterer überdies zentrale Existentialismus-Beiträge des in Wien geborenen französischen Schriftstellers Gerhard Horst ([Gerhard Hirsch] alias André Gorz[3]) und des aus Paris korrespondierenden P. A. Stephano. Zwischen den Kulturen stehende Vermittler und Vermittlerinnen sind mit ihren individuellen Präferenzen maßgeblich an diesen Transfers beteiligt. Unter den von den französischen Alliierten initiierten, geleiteten oder unterstützten Periodika sind die Europäische Rundschau[4](1946–1949), mit Übersetzungen von Monique von Stratowa und Pierre Seguy (Otto Robert Steinschneider), sowie Artikel in der Österreichischen Rundschau[5] (1945–1949) und Wort und Tat (1946–1948) hervorzuheben.

Eine besondere Vermittlungsrolle spielt ab März 1947 das wöchentlich in Wien erscheinende Bulletin Kulturelles (ab 1950 Geistiges Frankreich) des Französischen Informationsdienstes, der mit 200 bis 300 Exemplaren Presse, Radio, Universitäten, Vereine und geneigte Einzelpersonen wie Hochschullehrende und Intellektuelle mit künstlerischen und wissenschaftlichen Nachrichten aus Frankreich beliefert und so zum bedeutenden Wissensmultiplikator wird. Als Schlüsselfigur des französisch-österreichischen Transfers sticht – auch durch fortgesetzte Berichterstattung zum erweiterten Existentialismus-Kreis – der Redakteur Armand Jacob[6] hervor, der durch seine Textauswahl teils gegen Frankreichs kulturpolitische Leitlinie handelt: Diese priorisiert den Einsatz von nicht-polarisierender Literatur, mit Klassikern der Habsburgerzeit und einem konformen französischen Angebot. Diese Fördermaßnahmen beabsichtigen, das Selbst- und Staatsbewusstsein des ausdrücklich als pays ami behandelten Landes aufzubauen, um künftige Anschlussbestrebungen an Deutschland sicher zu verhindern. Anstelle von Selbstreflexion über die jüngere Vergangenheit steht, gestützt auf den Opferstatus Österreichs, die Rückbesinnung auf die eigene kulturelle Größe im Vordergrund.

Aus dieser Situation erklärt sich eine der auffälligsten Rezeptionspartikularitäten, das Überspringen des im deutschsprachigen Raum ansonsten ersten Transferschritts, des Résistance-Stücks Les Mouches (1943), das bei seiner österreichischen Erstaufführung Die Fliegen 1947/48 in den Wiener Kammerspielen im Wesentlichen ohne Echo bleibt, während es in Westdeutschland zum Theaterereignis der Saison gemacht wird und eine breite Diskussion entfacht. Das dem Orest-Drama zugrundeliegende Thema der Schuld lässt die französischen Kulturverantwortlichen in Österreich von jeder Unterstützung absehen, Sartre würde das Publikum höchstens unnötig verschrecken[7]. Gegen das im österreichisch-französischen accord culturel vom 15. März 1947 vorgesehene und vom Haut Commissariat bekräftigte Ansinnen, „une image exacte, diverse et actuelle[8]“ von Frankreichs Kultur zu vermitteln, reicht das Gros der ausgewählten Werke nicht über die Zwischenkriegszeit hinaus. So zeugt etwa das Programm des Institut Français d’Innsbruck und des Institut Français de Vienne mit Vorträgen zu Léon Bloy, François Mauriac, Charles Péguy und Georges Bernanos davon, dass man den Renouveau Catholique deutlich besser als den Existentialismus in der sich schnell rekonfessionalisierenden literarischen Landschaft aufgehoben sieht. Am positivsten aufgenommen unter dem Etikett Existentialismus wird der ihm zugeschriebene katholische Vertreter Gabriel Marcel, andererseits Albert Camus, dessen Philosophie und Literatur des Absurden in ihrer nüchternen Ästhetik zu einer weniger moralisch destabilisierenden, verträglicheren Variante des Existentialismus umfunktioniert wird. Doch gibt es auch bei Sartre, dessen Breitenwirkung als internationale Berühmtheit schwer zu ignorieren ist, katholische Vereinnahmungsbestrebungen, die durch die Elastizität des Existentialismus und die Deutungsoffenheit seiner Kernthemen wie Angst, Verlassenheit und Verzweiflung viele Anknüpfungspunkte finden. So haben – auch nachdem Sartres Gesamtwerk 1948 durch den Vatikan indiziert wird – Theologen (Johann Fischl, Gotthold Hasenhüttl) und katholische Intellektuelle bisweilen gegen den Strich substantiellen Anteil am Transfer, z. B. durch die Auseinandersetzung in der auf die Modernisierung der katholischen Kirche zielenden Zeitschrift Wort und Wahrheit[9](1946-1973), mit Artikeln u. a. von Gotthard Montesi (Anton Böhm) und Sartres einstigem Schüler Maxime Chastaing[10], wenn auch ratlos über das jede apriorische Essenz negierende Menschenbild.

Im neoklerikalen Milieu der österreichischen Universitätsphilosophie ähnelt der Ton jenem der katholischen Kulturkritik, mit der es auch personelle Überschneidungen gibt, u. a. der Philosoph Erich Heintel, der mit seinen wortreichen Angriffen auf die Willkür der existentialistischen Lehre einen jener in ihrer Wirkung paradoxen intermédiaires darstellt, die Kulturelemente nicht aus Verehrung, sondern Ablehnung transportieren. Befürwortend vermittelt Sartre vor allem Heintels Konterpart am Wiener Philosophischen Institut, Leo Gabriel, der mit seinen Lehrveranstaltungen, Dissertationsbetreuungen und der Studie Existenzphilosophie von Kierkegaard bis Sartre (1951) die akademische Rezeption in Gang setzt. Der Status einer ernstzunehmenden Philosophie bleibt dem Existentialismus aufgrund seines Nahverhältnisses zu Literatur und Politik sowie insbesondere durch seine Ausdrucksformen als Lebensstil dennoch lang verwehrt. In Wien amalgamiert sich der existentialistische Denk-, Sprach-, Kleidungs- und Lebensstil zu einem diffusen soziokulturellen Ganzen nach Pariser Vorbild speziell im zum ‚Art Club‘ gehörenden Kellerlokal ‚Strohkoffer‘, „une cave dans le style de Saint-Germain-des-Prés […] avec cette grâce qui caractérise Vienne“, wie Jean Cocteau am 27. Mai 1952 in seinem Tagebuch festhält. Ingeborg Bachmann berichtet im selben Jahr Paul Celan: „Rund um uns war es ein bisschen wie Paris, und auch die Menschen sahen fast so aus wie die im Deux Magots.“ Die äußerlichen Aspekte sind der Hauptfokus der Wiener Tagespresse, die in der Berichterstattung stets hervorhebt, dass von dieser Klientel nichts Substantielles zu erwarten sei. Dass der Existentialismus der traditionsmüden Jugend hilft, gegen die geistige Enge der Elterngeneration aufzubegehren, stellt jedoch einen wichtigen Faktor für seine Verbreitung dar.

Der Höhe- und Wendepunkt der österreichischen Existentialismus-Aufnahme ist erreicht, als Sartre im Dezember 1952 nach Wien reist, um als einer von 1880 Gästen aus 85 Ländern dem unter Protektion der Sowjetarmee abgehaltenen Wiener ‚Völkerkongress für den Frieden‘ beizuwohnen[11]. Sein Auftritt markiert nach außen hin den Anfang seiner vierjährigen Phase als compagnon de route der Kommunistischen Partei Frankreichs. Sartre sieht im Kongress ein historisches Ereignis an einem neuralgischen Ort zwischen den Blöcken, weshalb er zuvor aus Angst vor Instrumentalisierung seines in antikommunistischem Ruf stehenden Stücks Les Mains sales (1948) dessen Aufführung im Wiener Theater am Parkring untersagen lässt. Bei seinem zweiten und letzten Österreich-Aufenthalt scheitert ein Versuch, die Aufführung des Stücks 1954 auch am Wiener Volkstheater zu verhindern. Sartres Völkerkongress-Auftritt und die medial befeuerte Selbstzensur sorgen für eine Umkehrung der eingespielten Rezeptionsmuster, insofern als die kommunistische Kritik, die vor allem in der Zeitschrift Tagebuch nach 1945 den stärksten Widerstand gegen die als zu abstrakt und antihumanistisch empfundene Freiheitsphilosophie geleistet hat, Sartres Wandel sehr begrüßt, während sich ansonsten im antikommunistisch geprägten Kulturbetrieb der Zweiten Republik das Image festigt, Sartre instrumentalisiere Literatur für parteipolitische Zwecke. Sartres Absagen erscheinen als Verrat an seinem Konzept der littérature engagée, das jedes literarische Werk als Appell an die Freiheit der Lesenden versteht. Für Sartre fungiert Literatur als miroir critique, in dem Maße, als jedes literarische Aufzeigen von Tatsachen deren Infragestellung impliziere und damit per se politisch sei. Dieses in Qu’est-ce que la littérature ? (1948) theoretisierte Programm steht im Einklang mit der seinerzeitigen Forderung nach schriftstellerischer Verantwortung in österreichischen Literatur- und Kulturzeitschriften aller Lager. Indes wächst nach dem Zweiten Weltkrieg der Zweifel der in langer sprachskeptischer Tradition stehenden Schreibenden, ob sich durch die alte Sprache nicht nur alte Denkmuster perpetuieren. Der in vielen Variationen vorgebrachte Leitsatz „Keine neue Welt ohne neue Sprache[12]“ steckt die Grenzen der Bereitschaft ab, sich einem Literaturverständnis zu öffnen, das auf die Sagbarkeit der Dinge vertraut und auf konstruktive Weise Missverhältnisse zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem überwinden möchte: „La fonction d’un écrivain est d’appeler un chat un chat. Si les mots sont malades, c’est à nous de les guérir.“ [13] Diese Spannung wird in der österreichischen Rezeption bis zu einem gewissen Grad aufgehoben: Durch den kriegsbedingten Nachholbedarf werden das „im Schock der Unverständlichkeit[14]“ sich mitteilende Werk von Franz Kafka und der Surrealismus parallel zum Existentialismus und Camus’ Absurdem aufgenommen. So führt die bei Kulturtransfers übliche asynchrone Aufnahme zum Verschmelzen durchaus widersprüchlich erscheinender Elemente, die sich durch die produktive Anverwandlung noch weiter hybridisieren, wenn sich in der österreichischen Literatur nachfolgend Facetten des Absurden und des Sprachexperiments mit hintergründiger Gesellschaftskritik verbinden.

Die Präsenz des Existentialismus in Texten österreichischer Autoren und Autorinnen reicht über dieses Engagement hinaus von der Behandlung existenzphilosophischer Themen und Motive (u. a. bei Milo Dor, Hans Lebert, Hertha Kräftner, Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Helmut Eisendle), über intertextuelle Verweise (z. B. bei Paul Blaha, Gerhard Fritsch, Johannes Mario Simmel, Peter Turrini, Thomas Bernhard) bis zu eingehenden Auseinandersetzungen mit Sartres Theoremen (z. B. bei Andreas Okopenko, Josef Winkler, Ruth Aspöck, Elfriede Jelinek, Norbert Gstrein) und erweist sich so als literarisch-philosophischer Impuls bis in die Gegenwart.

Quellen und externe Links

Bibliografie

  • Adorno, Theodor W.: Engagement. In: Adorno: Noten zur Literatur. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 41996 (Gesammelte Schriften 11), S. 409–430.
  • Bachmann, Ingeborg: „Das dreißigste Jahr“. In: Bachmann: Sämtliche Erzählungen. München: Piper 20108, S. 94–137.
  • Bachmann, Ingeborg: Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Der Briefwechsel, mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie zwischen Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Hg. und komm. von Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll und Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008.
  • Cocteau, Jean: Le Passé défini. I. 1951–1952. Journal, texte établi et annoté par Pierre Chanel. Paris: Gallimard 1983.
  • Haut Commissariat de la République Française en Autriche: Division Information, Centre de Documentation, Deux ans et demi de présence française en Autriche, notes documentaires et études no 870 (Série européenne – CXIV), 23 mars 1948.
  • Porpaczy, Barbara: Frankreich – Österreich. 1945–1960. Kulturpolitik und Identität (Innsbruck, Wien, München, Bozen: StudienVerlag 2002 (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 18).
  • Sartre, Jean, Paul: Qu’est-ce que la littérature?. Paris: Gallimard 1948.
  • Werner, Juliane: Existentialismus in Österreich. Kultureller Transfer und literarische Resonanz. Berlin, Boston: De Gruyter 2021 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 153).

Autorin

Juliane Werner

Onlinestellung: 05/06/2024