André Gide

Der französische Schriftsteller André Gide (22. November 1869, Paris, † 19. Februar 1951, Paris), Nobelpreisträger für Literatur 1947, ist schon seit 1895 eine herausragende Persönlichkeit im Literaturleben als Romancier, Dramaturg, Essayist, Tagebuchschreiber und Journalist, aber auch als Verleger, da er 1908 persönlich zur Gründung der Nouvelle Revue Française beigetragen hat. Als großer Reisender – so begibt er sich zum Beispiel nach Afrika (Algerien, Tunesien, und Kongo) und in die UdSSR –, unternimmt er schon in jungen Jahren mehrere Reisen nach Deutschland, dessen Kultur er ehrlich schätzt, vor allem seitdem er die Werke von Goethe oder Nietzsche gelesen hat. 1949 wird ihm sogar die Goethe-Medaille der Stadt Frankfurt verliehen. Gerade dieses stete Interesse für die deutschsprachige Welt führt ihn dazu, Beziehungen mit den österreichischen Schriftstellern Rudolf Kassner, Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmannsthal zu knüpfen, dies zumeist in Paris.
Leben und Werk
Sowohl durch sein Leben als auch durch sein Werk situiert sich André Gide von 1895 bis zu seinem Todesjahr 1951 im Zentrum des französischen Literaturlebens. Die zahlreichen von ihm veröffentlichten Werke bieten eine breite Palette verschiedener Gattungen und Stilrichtungen: nach einigen frühen Werken, die eng mit seiner eigenen Subjektivität verbunden waren (Les Nourritures terrestres, 1897) und ein paar Misserfolgen im Bereich des Theaters, widmet er sich später vor allem dem Roman, einer Gattung, die er manchmal mit dem Begriff „sotie“ näher definiert, um die satirische Dimension stärker hervorzuheben (Les Caves du Vatican, 1914). Sein Journal, das Tagebuch der Jahre 1889-1939, bietet dem Leser wertvolle Einblicke nicht nur in den Lauf seines Lebens oder in seine Reflexionen, sondern auch in seine zahlreichen Begegnungen mit französischen und europäischen Intellektuellen. Dieser Gedankenaustausch wurde durch die damals in der französischen Hauptstadt üblichen mondänen Gepflogenheiten wie auch durch seine Tätigkeit als Herausgeber der NRF gefördert.
Verbindungen mit Österreich und der österreichischen Kultur
Gides Verbindungen mit der österreichischen Literatur zeigen sich in den Tagebucheinträgen, in denen der Autor seine Lektüren vermerkt. So erfahren wir, dass er im September 1905 die Erzählung Der Garten der Erkenntnis (1895) von Leopold Andrian[1] gelesen hat. Aber auch direkte Begegnungen von Gide mit einigen österreichischen Autoren sind zu verzeichnen ; sie finden manchmal in Kurznotizen ihren Niederschlag. So ist von einem „abscheulichen“ Ball die Rede, auf den er Kassner „mitnimmt“ (17. März 1904) oder von einem „Spaziergang“ mit Hofmannsthal im Jardin du Luxembourg (April 1905).
Diese oft episodischen persönlichen Beziehungen finden jedoch dank zweier Formen des Kulturaustausches eine bedeutsame Verlängerung: und zwar dank des mehr oder weniger regen Briefkontakts, sowie des gemeinsamen Interesses an der Übersetzung des einen oder anderen Werks für das frankophone oder deutschsprachige Publikum. Gide, der in seiner Kindheit Deutsch gelernt hat und insbesondere Goethes Werke und etwas später gewisse Werke Nietzsches schätzt, versteht Übersetzung als eine unentbehrliche Brücke zwischen Autoren und Kulturen. Im Rahmen des Projekts einer Aufführung seines Stücks Le Roi Candaule (1899) im Februar 1906 im Deutschen Volkstheater Wien[2], die sich letztlich nicht als großer Erfolg erweisen sollte, nimmt Gide zum Beispiel Kontakt auf mit dem Verleger und Übersetzer Franz Blei (1871-1942). Nach der Veröffentlichung mehrerer anglophoner Autoren (Shakespeare, Conrad, Blake) in französischer Übersetzung unternimmt er erfolgreich mit zwei österreichischen Autoren – Kassner und Rilke – Übersetzungen vom Deutschen ins Französische, lange bevor er sein Übersetzertalent an Goethes Prometheus (1951) beweist, wodurch er zugleich seine enge Beziehung zu literarischem Schreiben bekundet.
Wenn Gide als Übersetzer wirkt, möchte er eine feinsinnige und tiefreichende Lektüre des gewählten Werks bieten, aber auch eine ehrliche Dankbarkeit, ja sogar Bewunderung gegenüber dem Autor des gewählten Werks ausdrücken. Dies gilt für den zwischen Gide und Kassner entstandenen Austausch von Übersetzungen: Gide als Übersetzer des Kapitels „John Keats“ von Kassner (1900) und letzterer als Übersetzer von Philoctète (1901)[3]
Die Beziehungen zwischen Gide und Rilke entwickeln sich in ähnlicher Form wie die bereits erwähnten mit Kassner: es kommt sowohl zu persönlichen Kontakten, vor allem in Paris – dort hält sich Rilke längere Zeit zwischen 1902 und 1914 auf –, als auch zu einem regen Briefkontakt (zwischen 1910 und 1926), in dem von der Übersendung (manchmal mit Widmung) oder dem Lesen dieses oder jenes Werks die Rede ist, aber bisweilen auch von Übersetzungen. Die erste Begegnung zwischen Gide und Rilke hat wahrscheinlich 1910 stattgefunden, dank des kleinen Kreises von Persönlichkeiten, die regelmäßig mit dem französischen Schriftsteller in Kontakt standen – Kessler, Verhaeren, Kassner, Hofmannsthal. Gide erhält kurz nach dem Erscheinen ein Exemplar von Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Er ist begeistert und beschließt, einige Auszüge zu übersetzen, die am 1. Juli 1911 in der NRF erscheinen, und Rilke zeigt sich „zutiefst berührt von dieser inspirierten Übertragung“ (Brief vom 6. Juli 1911). Angeregt von seinem Interesse für die französische Sprache und die – manchmal schwierige – Kunst der Übersetzung schlägt Rilke vor, eine deutsche Übertragung von Gides Retour de l’enfant Prodigue (1907) zu verfassen, die 1914 unter dem Titel Die Rückkehr des verlorenen Sohnes im Insel Verlag erscheint. Gide und Rilke korrespondieren darauf mehrmals in Bezug auf eine Übersetzung des Prosagedichts Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke (1899-1904), Chant de l’amour et de la mort du cornette Chrisophe Rilke, ein Projekt, das unverwirklicht bleibt, da Gide befürchtet, „den ursprünglichen Charakter des kleinen Buchs nicht originalgetreu wiederzugeben“ (Brief vom 22. Juli 1914). Die bis 1914 bestehenden Kontakte brechen gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs ab. Zu erwähnen ist aber die direkte Intervention von Gide im Januar 1916 zugunsten der Rückerstattung, der Güter und Werke Rilkes, die von den Besitzern der an Rilke vermieteten, Wohnung 17 rue Campagne-Première wegen ausstehender Mietzahlungen im April 1915 versteigert worden sind. Rilke wird letztlich diese wenigen Dokumente erst im Juni 1925 erhalten.
Die Verbindungen zwischen Gide und Hofmannsthal sind ganz anderer Art, denn die Begegnungen der beiden Schriftsteller in Paris waren relativ selten (1905 und 1925). In Gides Journal finden sich nur wenige Bemerkungen zu Hofmannsthals Besuch in Paris im Mai 1905. Allerdings hatte Gide 1903 anlässlich eines Aufenthalts in Deutschland bereits indirekt Kontakt mit Hofmannsthals Werk, insbesondere mit dem Theaterstück Elektra, das er in einer Inszenierung von Max Reinhardt im "Kleinen Theater" in Berlin gesehen hat. 1904 wird Gide von Kessler dazu angeregt, eine französische Übersetzung dieses Werks zu verfassen, doch Gide gibt schließlich dieses Projekt auf, obwohl er Hofmannsthals Veröffentlichungen zutiefst schätzt, wovon das Versenden von teilweise mit Widmungen versehenen Werken zwischen Paris und Rodaun zeugt. Die Veröffentlichung einer französischen Fassung des Chandos Briefes unter dem Titel La Lettre de Lord Chandos in der NRF im März 1924 liefert dafür einen deutlichen Beweis.
Quellen und externe Links
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Leopold_Andrian-Werburg
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Volkstheater_(Institution)
- ↑ Bezüglich der Beziehungen zwischen Gide und Kassner siehe den Beitrag zu « Rudolf Kassner ».
Bibliografie
Werke (Auswahl)
- Gide, André, Journal I (1889-1939), Paris, Gallimard-Pléiade, 1960.
- Rainer Maria Rilke – André Gide, Correspondance 1909-1926, Renée Lang (éd.), Paris, Corréa, 1952.
- Kassner, Rudolf, „André Gide“, Sämtliche Werke II, Zinn, Ernst - Bohnenkamp, Klaus E. (Hg.), Pfullingen, Neske, 1969-1991, p. 388-393.
- Kassner, Rudolf, „André Gide /Anmerkungen“, Sämtliche Werke III, Zinn, Ernst - *Bohnenkamp, Klaus E. (Hg.), Pfullingen, Neske, 1969-1991 p. 810-813.
- Kassner, Rudolf, „Paris. 1900“, Umgang der Jahre, Sämtliche Werke IX, Zinn, Ernst - Bohnenkamp, Klaus E. (Hg.), Pfullingen, Neske, 1969-1991, p. 358-391 ; „Anmerkungen“, ibid., p. 913-934.
Sekundärliteratur
- Bohnenkamp, Klaus E. - Foucart, Claude, „Rudolf Kassners Briefe an André Gide“, in Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft, XXX, 1986, p. 83-127.
- Bohnenkamp, Klaus E., „Rudolf Kassner und André Gide“, in Germanisch-romanische Monatsschrift, 29, 1979, p. 94-102.
- Foucart, Claude, « André Gide et Hugo von Hofmannsthal ou la rencontre d’un grand enfant », Bulletin des Amis d’André Gide, Vol. 7, n° 43, juillet 1979, p. 2-18.
- Guiney, Martin, « Gide, Rilke, et l’exil de l’Enfant prodigue : Gide, lecteur et critique », Bulletin des Amis d’André Gide, Vol. 20, n° 93, janvier 1992, p. 25-36.
- Lang, Renée, “Rilke and Gide: Their Reciprocal Translations”, Yale French studies, 1951, n° 7, p. 98-106.
- Méry, Marie-Claire, „Literarische Kontakte zwischen Wien und Paris um 1900: Wahl- und Geistesverwandtschaften zwischen Rudolf Kassner und André Gide“, in Aneignung und Abgrenzung. Studien zur Relativität kultureller Grenzziehungen zwischen der französischen und der deutschsprachigen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, Véronique Liard / Bernhard Spies (Hrsg.), Frankfurt/M., Peter Lang, 2013, p. 47-61.
- Méry, Marie-Claire, « Rudolf Kassner et André Gide : rencontres littéraires dans les années 1900 » ; en annexe, traduction de l’essai de Rudolf Kassner « André Gide », Bulletin des Amis d’André Gide, Vol. 61, no217/218, printemps 2023, p. 67-84 et p. 85-90.
- Paysac, Henry (de), « Rilke, Kassner et Gide », Bulletin des Amis d'André Gide, Vol. 17, no81, janvier 1989, p. 87-90.
- Quéval, Marie-Hélène, « À l’ombre de Friedrich Nietzsche : André Gide, Rudolf Kassner et Rainer Maria Rilke », in Rainer Maria Rilke. Inventaire – Ouvertures, Michel Itty / *Silke Schauder (dir.), Villeneuve-d’Ascq, Presses Universitaires du Septentrion, 2013, p. 367-383.
Autor
Marie-Claire Mérey Übersetzung von Marie-Hélène Belletto-Sussel
Onlinestellung: 10/01/2025