Egon Wellesz

Der Komponist und Musikwissenschaftler Egon Wellesz[1], der u.a. als Schüler Arnold Schönbergs sowie für seine bahnbrechenden Entdeckungen im Bereich der Byzantinistik bekannt ist, pflegte enge Kontakte zu Großbritannien, das von 1938 bis zu seinem Tod 1974 zu seiner Exilheimat wurde. Weniger erforscht ist seine Rolle als Vermittler zwischen Paris und Wien: In den 1910er und 1920er Jahren wirkte er maßgeblich für die Rezeption der Zweiten Wiener Schule in Frankreich und für die Verbreitung der französischen Musik in Österreich.
Biografie
Auch wenn er oft in Verbindung mit der Zweiten Wiener Schule gebracht wird, waren die Beziehungen zwischen Wellesz und Schönberg und dem sogenannten Schönberg-Kreis komplex und zeitweilig von gegenseitigem Argwohn geprägt[2]. Nachdem er 1905 begonnen hatte, Harmonielehre und Kontrapunkt bei Schönberg zu studieren, brach Wellesz den Unterricht nach nur einem Jahr ab, um nach eigenem Bekunden zu einem persönlichen Stil zu finden. Obwohl er also nicht zum inneren Zirkel der Wiener Avantgarde zählte und sich auch in seinen Schriften immer wieder von den Grundsätzen der neuen Kompositionslehre distanzierte, bemühte sich Wellesz die Ideen und Werke Schönbergs sowie seiner engsten Schüler, Alban Berg[3] und Anton Webern[4], bekannt zu machen und zu verbreiten, zunächst im deutschsprachigen Raum, später aber auch im europäischen Ausland, insbesondere in Frankreich. Dazu konnte er sich auf das Netzwerk stützen, das er im Rahmen seiner Tätigkeit als Musikwissenschaftler und Musikkritiker aufgebaut hatte.
Wellesz hatte 1908 bei Guido Adler promoviert und sich 1913 an der Universität Wien habilitiert, wo er bis 1938 lehrte. 1906 hatte er sich im Rahmen seines Studiums in Cambridge aufgehalten und auf der Rückreise nach Wien erstmals Paris besucht[5]. Seine Teilnahme an mehreren internationalen Kongressen und seine Mitarbeit in Vereinigungen wie der Internationalen Musikgesellschaft[6] ermöglichten es ihm in Austausch mit europäischen Musikwissenschaftlern und -Kritikern zu treten. Seine wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Aufgaben sowie sein Interesse für die musikalischen Entwicklungen außerhalb des deutschsprachigen Raums führten ihn schon vor dem Ersten Weltkrieg nach London, Budapest und Paris.
1909 lernte er anlässlich des Kongresses der Internationalen Musikgesellschaft in Wien den Franzosen Jules Ecorcheville[7] kennen, mit dem ihn daraufhin eine enge Freundschaft verband. Ecorcheville bat Wellesz um Beiträge über das Wiener Musikleben für die von ihm herausgegebene Zeitschrift La Revue musicale S.I.M[8]. So entstand neben kürzeren Berichten über die Aktivitäten der Wiener Avantgarde 1912 der erste ausführliche Artikel über Schönberg in französischer Sprache[9]. Unter dem Titel „Schönberg et la jeune école viennoise“ präsentierte Wellesz den Komponisten als Ausnahme in der österreichischen Musiklandschaft der Jahrhundertwende[10]. Der Artikel endete mit längeren Zitaten aus Schönbergs Schriften, die Einblick in sein theoretisches Denken gaben; das angehängte Faksimile der Partitur des Dritten Satzes aus dem Zweiten Streichtquartett op. 10 gab dem französischen Publikum erstmals die Möglichkeit das musikalische Schaffen Schönbergs im Original kennenzulernen, da seine Werke in Paris bis dahin nicht zur Aufführung gelangt waren. 1914 verfasste Wellesz ein weiteres Schönberg-Porträt, das zusammen mit einem Auszug aus dem Buch der hängenden Gärten op. 15 in der Zeitschrift Les Cahiers d’aujourd’hui veröffentlicht wurde[11].
Über Ecorcheville, aber auch über seinen Wiener Freund Harry Loewy-Hartmann[12], der in den Kreisen um Berta Zuckerkandl verkehrte[13], lernte Wellesz die zeitgenössische französische Musik kennen, insbesondere das Werk Claude Debussys, das im Wien der Jahrhundertwende noch selten zur Aufführung gelang[14]. Er setzte sich fortan für die Verbreitung der Werke französischer Komponisten in Österreich ein. Im Februar 1911 hielt er im Rahmen der Wiener Urania, einer Einrichtung für Erwachsenenbildung, einen Vortrag über „Die jüngste Entwicklung der neufranzösischen Musik“, der im Mai desselben Jahres im Merker veröffentlicht wurde[15] und ebenfalls in Frankreich rezipiert wurde[16].
Wellesz nutzte seine Pariser Kontakte außerdem, um seine eigene Karriere als Komponist voranzubringen. So machte ihn Ecorcheville mit den Verlegern Eugène Démets[17][18] sowie Albert-Zunz Mathot[19] bekannt, die ihr Interesse für seine Klaviersonaten bekundeten. Der Beginn des Ersten Weltkriegs, der 1915 auch zum Tod Ecorchevilles auf dem Schlachtfeld führte, gingen allerdings mit dem Abbruch der Verbindungen zu Frankreich und der verschiedenen damit verbundenen Projekte einher.
Anders als die meisten Wiener Musikschaffenden, die sich nach dem Ersten Weltkrieg bei der Wiederaufnahme von Kontakten mit ihren französischen Kollegen zurückhaltend bis feindlich verhielten, setzte sich Wellesz nach 1918 für die Intensivierung des Austauschs zwischen europäischen MusikerInnen ein. Noch vor Kriegsende hatte er dem am 25. März 1918 verstorbenen Debussy in einem kurzen Artikel im Daimon als dem Komponisten der Zukunft gedacht und sich damit entschieden gegen den Antidebussysmus der österreichischen Medien positioniert[20]. Aus Frankreich erreichte ihn 1919 die Anfrage des Musikwissenschaftlers Henry Prunières[21], den er noch 1914 anlässlich des Kongresses der IGM in Paris getroffen hatte, und der, nachdem die Publikation der Revue musicale S.I.M. 1914 eingestellt worden war, eine neue Revue musicale[22] mit dezidiert modernem und internationalistischem Anspruch zu gründen gedachte. Wie Ecorcheville zuvor, bat Prunières Wellesz um regelmäßige Berichte über das Musikleben in Österreich[23]. Zwischen 1920 und 1926 sandte Wellesz sechzehn „Briefe aus Wien“, in denen er Auskunft über die wichtigsten Entwicklungen unter den Komponisten der Wiener Avantgarde gab, aber auch über die Vorgänge an den Wiener Musikeinrichtungen[24]. Wellesz schrieb zudem ausführliche Beiträge zu Schönbergs Werk, 1921 für die Zeitschrift Cahiers d’aujourd’hui[25] und 1923 für die Revue musicale[26], in der 1926 auch die französische Übersetzung seiner Schönberg-Biografie von 1920 erschien. Mit diesen Publikationen ebnete Wellesz den Weg für die erfolgreiche Rezeption der Zweiten Wiener Schule im Paris der zwanziger Jahre[27].
Wellesz setzte sich zeitgleich für die Zirkulation der Ideen und der Werke zwischen Paris und Wien ein. Er sorgte dafür, dass wichtige Veröffentlichungen und Notenmaterialien der Wiener Universal Edition[28], aber auch die Hefte der neu gegründeten Avantgarde-Zeitschrift Musikblätter des Anbruch[29] über Prunières nach Paris gelangten; über den französischen Kulturattaché Marcel Dunan besorgte er Partituren der Werke Debussys, Ravels und Strawinskys für die Konzerte des Vereins für musikalische Privataufführungen[30][31] und ließ sich die Revue musicale und andere bedeutende französische Zeitschriften senden, um den Entwicklungen im Bereich der Musik und Kultur folgen und darüber berichten zu können. So veröffentlichte er in den Musikblättern des Anbruch zwischen 1919 und 1935 Artikel über französische Komponisten wie Maurice Ravel, Claude Debussy und Paul Dukas[32].
In den zwanziger Jahren gewannen die persönlichen Kontakte zu französischen Komponisten und MusikerInnen an Bedeutung. Während der Besuche Ravels in Wien 1920 und 1932 sowie Francis Poulencs[33], Darius Milhauds[34] und Marya Freunds 1922, war er immer wieder als Übersetzer und Vermittler tätig, auch wenn er das Französische nur unvollkommen beherrschte. Die notorische Gastfreundschaft im Hause Wellesz[35] ließ dauerhafte Freundschaften entstehen, wovon auch der Briefnachlas in der Österreichischen Nationalbibliothek zeugt. In Paris eröffneten ihm seine Beziehungen ein weiteres Netzwerk an Kulturschaffenden, aber auch an Kulturfunktionären, die er wiederum mit seinem Wiener Netzwerk zu verknüpfen suchte. Wellesz überbrachte beispielsweise Schönberg die Anfrage des Choreografen Léonide Massine[36], der 1922 eine Ballett-Adaption des Pierrot lunaire beabsichtigte[37]. Insgesamt setzte er sich zu dieser Zeit unermüdlich für die Aufführung der Werke der Zweiten Wiener Schule in Paris und London und diejenigen der französischen Avantgarde in Wien ein.
1922 organisierte Wellesz gemeinsam mit dem Pianisten und Komponisten Rudolf Réti[38] das erste Internationale Kammermusikfestival in Salzburg. Der Erfolg dieses Musikfests, bei dem erstmals nach dem Krieg zahlreiche MusikerInnen aus verschiedenen Ländern zusammenfanden, führte zur Gründung der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik[39], die in den darauffolgenden Jahren der europäischen Avantgarde regelmäßige Austauschmöglichkeiten bot. Wellesz nahm sowohl als Organisator und Juror als auch als Komponist an den Musikfesten teil, u.a. in Salzburg, Prag, Venedig, Oxford, London und Barcelona.
Mit seinem Engagement für den Ausbau der internationalen musikalischen Beziehungen in den zwanziger Jahren verloren die Verbindungen nach Frankreich an Bedeutung: Wellesz stellte 1926 seine Sendungen an die Revue musicale ein und publizierte in der Folge kaum noch in französischen Medien. Obwohl er in seinem Sommer-Domizil in Alt-Aussee weiterhin Kontakte zur Familie Zuckerkandl pflegte und ebenfalls die französische Sängerin Germaine Lubin[40] kennenlernte [41], konzentrierte Wellesz sich zunehmend auf sein persönliches Schaffen. 1934 veröffentlichte er noch bei einem Pariser Verlag, L’Oiseau de lyre, eine zweibändige Anthologie byzantinischer Musik, Trésors de la musique byzantine, die insofern eine Ausnahme bildete, als Wellesz seit 1931 aktiv an der Publikation der Monumenta Musicae Byzantinae in Kopenhagen beteiligt war und die meisten seiner Publikationen in diesem Bereich in englischer Sprache erschienen[42]. 1938 musste er als Jude vor den Nazis fliehen musste, ging er ins Exil nach Großbritannien, wo er 1946 die britische Staatsbürgerschaft erwarb und seine Tätigkeit hauptsächlich im Bereich der Musikwissenschaft fortsetzen konnte. 1957 erhielt er die Grande médaille d’argent der Stadt Paris.
Das Wirken Egon Wellesz’ als Vermittler zwischen Österreich und Frankreich, aber auch anderen Ländern wie England und Ungarn, verdiente größere Aufmerksamkeit. Insbesondere die systematische Auswertung des umfangreichen Briefwechsels[43] mit Blick auf den französisch-österreichischen und internationalen Austausch würde einen wichtigen Einblick in die musikalischen Netzwerkbildung der Vor- und Zwischenkriegszeit geben.
Quellen und externe Links
- ↑ https://musiklexikon.ac.at/0xc1aa5576_0x0001e689
- ↑ Bujić 2020
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- ↑ Cepin Benser 1985, 12
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- ↑ https://d-nb.info/gnd/105514255X
- ↑ Wellesz 1981, 64-65
- ↑ Mussat 2001, 149
- ↑ Wellesz 1912
- ↑ Wellesz 1914
- ↑ https://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_L/Loewy_Harry.xml
- ↑ Wellesz 1981, 66-67
- ↑ Bujić 2020, 43
- ↑ Wellesz 1911
- ↑ Mussat 2001, 149
- ↑ https://data.bnf.fr/ark:/12148/cb17032086s
- ↑ Wellesz 1981, 88-89
- ↑ Brief an Prunières 1919
- ↑ Bujić 2020, 61-63
- ↑ https://d-nb.info/gnd/116305924
- ↑ https://www.ripm.org/pdf/Introductions/REVintroor.pdf
- ↑ Briefe an Prunières 1919
- ↑ Picard 2025
- ↑ Wellesz 1921
- ↑ Wellesz 1923
- ↑ Bujić 2020, 89
- ↑ https://musiklexikon.ac.at/0xc1aa5576_0x0001e689
- ↑ https://ripm.org/?page=JournalInfo&ABB=ANB
- ↑ Wellesz 1981, 120
- ↑ https://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_V/Verein_musikalische_Privatauffuehrungen.xml
- ↑ Cepin Benser 1985, 384-385
- ↑ https://d-nb.info/gnd/11879308X
- ↑ https://d-nb.info/gnd/118582453
- ↑ Wanek 2010, 60
- ↑ https://www.sk-kultur.de/tanz/massine/seiten/massine.html
- ↑ Bujić 2020, 90-93
- ↑ https://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_R/Reti_Rudolf.xml
- ↑ https://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_I/IGNM.xml
- ↑ http://www.cantabile-subito.de/Sopranos/Lubin__Germaine/hauptteil_lubin__germaine.html
- ↑ Wellesz 1981, 203-209
- ↑ Cepin Benser 1985, 159
- ↑ Wanek 2010
Bibliografie
Quellen
- Egon Wellesz, „Die jüngste Entwicklung der neufranzösischen Musik“, in: Der Merker 2/16 (1911), S. 657-665.
- Egon Wellesz, „Schönberg et la jeune école viennoise », in : La Revue musicale S.I.M. 8/3 (1912), S. 21-26. http://libserv14.princeton.edu/bluemtn/?a=d&d=bmtnabh19120315-01.2.7&e=-------en-20--1--txt-txIN-------
- Egon Wellesz, „Arnold Schönberg“, in: Les Cahiers d’aujourd’hui 10 (1914), S. 520-531.
- 4 Briefe Egon Wellesz’ an Henry Prunières, 1919. BNF: Fonds Henry Prunières. https://archivesetmanuscrits.bnf.fr/ark:/12148/cc100036m
- Egon Wellesz, „Les dernières œuvres d’Arnold Schönberg“, in: Les Cahiers d‘aujourd’hui 6 (1921), S. 286-296.
- Egon Wellesz, „Arnold Schönberg et son œuvre“, in : La Revue musicale 4/7, mai 1923, p. 1-18.
- Egon und Emmy Wellesz : Leben und Werk. Wien: F. Endler 1981.
Sekundärliteratur
- Bojan Bujić, Arnold Schoenberg and Egon Wellesz: a Fraught Relationship. London: Plumbago 2020.
- Caroline Cepin Benser : Egon Wellesz (1885-1974). Chronicle of a Twentieth-century Musician. New York et al.: Peter Lang 1985.
- Marie-Claire Mussat, « La réception de Schönberg en France avant la Seconde Guerre Mondiale », in : Revue de musicologie 87/1 (2001), S. 145-186.
- Sophie Picard : « Paris-Vienne ou l’axe des avant-gardes ? Les relations franco-autrichiennes dans la Revue musicale (1920-1940) », Marc Lacheny, Aurélie Le Née (Hg.), Austriaca, à paraître en 2025.
- Nina-Maria Wanek, Egon Wellesz in Selbstzeugnissen: Der Briefnachlass in der Österreichischen Nationalbibliothek. Wien: ÖAW 2010.
Autor
Sophie Picard
Onlinestellung: 22/12/2024