Guido Adler

Guido Adler[1], * 1.11.1855 in Eibenschitz in Mähren (Ivančice in Tschechien), † 15.2.1941 in Wien, gehört neben Eduard Hanslick[2] zu den Gründervätern der universitären Musikwissenschaft[3] in Österreich. Mit der Ernennung zum ordentlichen Professor an der Universität Wien im Jahr 1898 begann er zügig den Aufbau eines musikwissenschaftlichen Instituts, das er zum Zentrum musikalischer Stilforschung machte. Seine Kontakte zu Frankreich sind vielfältig: Sie reichen von der Wertschätzung für die Forschungen zum gregorianischen Choral, wie sie die Benediktiner von Solesmes durchführten, über die Beteiligung am Kongress der Internationalen Musikgesellschaft,[4] der 1914 in Paris stattfand, bis zu der von ihm organisierten Beethoven-Zentenarfeier 1927 in Wien, die ihn u.a. in Kontakt mit Romain Rolland brachte.
Biografie
Nach der Übersiedlung der aus Mähren stammenden Familie im Jahr 1864 nach Wien besuchte Adler das Akademische Gymnasium sowie ab 1868 das Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde, an dem er Klavier studierte. 1878 schloss er ein Jusstudium ab, beschäftigte sich aber daneben autodidaktisch mit Musikgeschichte und promovierte 1880 bei Eduard Hanslick. Ein Jahr später erfolgte bereits seine Habilitation.
Befassten sich bereits seine beiden Qualifikationsschriften mit mittelalterlicher bzw. frühneuzeitlicher Musikgeschichte und -theorie, so zeigte Adler ein besonderes Interesse für den gregorianischen Choral. 1882 erhielt er eine Einladung zum Internationalen Kongress für liturgischen Gesang, der in Arezzo stattfand. Auf der Reise dorthin lernte er u.a. den führenden Choralforscher von Solesmes, Dom Joseph Pothier, kennen. Adler sympathisierte mit der in Solesmes verfochtenen Methode, den Choral nach den ältesten Quellen zu restituieren und ihn in einem vom gesprochenen Latein ausgehenden Rhythmus vorzutragen.[5]
1885 wurde Adler außerordentlicher Professor an der Deutschen Universität in Prag. Sein fortgesetztes Interesse für den Choral wurde durch Pater Ambrosius Kienle[6], dem Kantor in Emaus (Prag), fachkundig gefördert. Kienle spielte bei der Vermittlung der Solesmenser Choralforschung in den deutschsprachigen Raum eine entscheidende Rolle. Adler machte ihn zum „Hauptreferenten für Choralforschung“[7] in der von ihm mitbegründeten und 1885 erstmals erscheinenden Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft. Kienle verfasste u.a. fünf Rezensionen zu Arbeiten von Pothier. Auch dieser war bezüglich einer Mitarbeit angefragt worden, musste aber absagen.[8]
Solesmes wurde für Adler noch in einer anderen Hinsicht vorbildlich: André Mocquereau, neben und nach Pothier der zweite renommierte Choralforscher des Klosters, begründete die Paléographie musicale, eine seit 1889 erscheinende Edition mittelalterlicher Choralhandschriften in phototypischer Reproduktion. Kienle schrieb eine Besprechung für die Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft,[9] Adler in den Mittheilungen des Instituts für Oesterreichische Geschichtsforschung.[10] In den späten 1880er Jahren beschäftigte sich auch Adler mit der Herausgabe musikalischer Denkmäler und Quellenschriften. Das letztlich nicht realisierte Projekt trug die Bezeichnung Monumenta historiae musices und sollte gewissermaßen die Paléographie musicale ergänzen, indem es die weltliche Musik des Mittelalters sowie die Mehrstimmigkeit umfasste. Es war als internationale Unternehmung geplant, an dem u.a. auch Frankreich mitarbeiten sollte.[11] Zwar scheiterte das Monumenta-Projekt, aus ihm gingen aber letztlich die von Adler 1893 begründeten und bis heute erscheinenden Denkmäler der Tonkunst in Österreich (DTÖ) hervor.[12] 1898 wurde Adler als ordentlicher Professor an die Wiener Universität berufen. Er beschäftigte sich auch weiterhin mit dem Choral. Von seinen Studenten sandte er insbesondere Priester, die sich noch intensiver mit dem Choral beschäftigen wollten, nach Solesmes.[13] Zu ihnen zählte etwa Franz Kosch[14], der nach seiner Promotion bei Adler (1924) in Solesmes weiter ausgebildet wurde. Von ihm wissen wir, dass Adler, als er vom Tod Pothiers († 1923) erfuhr, die Studierenden aufforderte, sich zum Zeichen der Trauer von ihren Sitzen zu erheben.[15]
Sein alter Monumenta-Plan, mittelalterliche Quellenschriften zu edieren, lebte noch einmal auf, als deutsche Kollegen an ihn herantraten, gemeinsam ein Corpus scriptorum de musica herauszugeben. 1906 wurde zu diesem Zweck ein Subkomitee der DTÖ-Kommission unter Adlers Vorsitz gebildet.[16] Für bibliographische Vorarbeiten reiste Adler 1907 nach Deutschland, Italien, Frankreich und England, wo er das Appuldurcombe House bei Wroxall auf der Isle of Wight besuchte, das 1901–1907 Exilort der durch die Kongregationsgesetze von 1901 bis 1922 vertriebenen Mönche von Solesmes war und wo er sich mit Mocquereau beriet.[17] Als direkte Folge dieser Gespräche wurden die Solesmenser Mönche Pierre Blanchard und Gabriel Beyssac am 11. Oktober 1907 als wirkende Mitglieder der DTÖ aufgenommen.[18] Der Erste Weltkrieg brachte das Projekt praktisch zum Erliegen.
Seit seinen Konservatoriumstagen war Adler ein glühender Wagner-Anhänger. Aus seinen im Studienjahr 1903/04 gehaltenen Vorlesungen über Wagner ging ein Buch hervor, das 1904 bei Breitkopf & Härtels herauskam.[19] Im selben Verlag erschien 1909 eine französische Ausgabe, die der Debussy-Biograph Louis Laloy übersetzt hatte, und zwar so gut, dass Adler „es fast lieber in der Übersetzung als im Original“[20] las. Tatsächlich sind Adlers Texte mitunter etwas schwerfällig. Wie er selbst bekannte, fehlte ihm der „französische esprit“.[21]
Im Mai 1909 fand in Wien der als „Haydn-Zentenarfeier“ berühmt gewordene dritte Kongress der Internationalen Musikgesellschaft (IMS), der Vorgängerinstitution der Internationalen Gesellschaft für Musikwissenschaft[22], statt. Als Vorsitzender des Kongresskomitees verantwortete Adler dieses Ereignis mit über 500 Teilnehmern aus aller Welt und einer großen Anzahl von Rednern, darunter etliche auch aus Frankreich (u.a. Pierre Aubry, Jules Écorcheville, Vincent d’Indy, Charles de Malherbe).[23]
Der fünfte Kongress der IMS fand dann im Juni 1914, eineinhalb Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in Paris statt. Präsident der IMS war zu dieser Zeit Écorcheville, von Adler als „tüchtiger Forscher“[24] bezeichnet. Adler wurde gebeten, als Vertreter der ausländischen Delegierten zu sprechen und nannte dabei Paris die „Stadt des Lichtes“ („Ville de la lumière“ bzw. „ville-lumière“),[25] was von Premier Louis Barthou, dem Ehrenvorsitzenden des Kongresses, beifällig aufgenommen worden sein soll.[26] Von den zahlreichen Veranstaltungen hob Adler Aufführungen mittelalterlicher französischer Musik in der Sainte-Chapelle, zusammengestellt und bearbeitet von Amedée Gastoué, sowie ein Konzert mit Werken aus der Zeit Ludwigs XIV. im Spiegelsaal von Versailles hervor.[27] Der Pariser Kongress sollte der letzte der IMS sein. Die durch den Krieg verstärkten nationalen Spannungen führten de facto zu ihrer Auflösung noch im selben Jahr.
Einer der großen internationalen Musikwissenschaftskongresse nach dem Krieg war die von Adler 1927 in Wien federführend organisierte und von Bund und Stadt Wien veranstaltete Beethoven-Zentenarfeier. Einer der Festredner war Romain Rolland,[28] der für Adler neben Hermann Abert seine „Aufgabe glänzend erfüllt“[29] habe. Zum musikalischen Programm zählte ein Ballett, das aus Tänzen von Jean-Philippe Rameau zusammengestellt wurde. Aufsehen erregten die von Adlers Schüler Rudolf Ficker geleiteten Aufführungen von „Gotischer Mehrstimmigkeit“ (u.a. mit Perotin) in der Hofburgkapelle.[30] An diesem Kongress nahm auch Henry Prunières teil, der hier über Adlers Anregung die Gründung einer neuen internationalen musikwissenschaftlichen Gesellschaft vorschlug,[31] die noch im selben Jahr in Basel als Internationale Gesellschaft für Musikwissenschaft gegründet wurde, deren erster Ehrenpräsident Adler wurde und die bis heute besteht. Prunières schrieb auch für die zweite, 1930 erschienene Auflage von Adlers Handbuch der Musikgeschichte das Kapitel über die französische Moderne.[32]
Lobte A. in seinem Handbuch „das friedliche Zusammenarbeiten von Vertretern verschiedener Nationen“[33], so war auch er nicht immer gefeit gegen nationale Stereotype, etwa wenn er in Jugendjahren die Danse macabre von Camille de Saint-Saëns als „pikantes Zeug“[34] apostrophierte oder im Ersten Weltkrieg von der Überlegenheit deutsch-österreichischer Musik gegenüber jener von den Gegnern überzeugt war: „Der Russe, der Franzose, der Engländer könnten uns als Sieger nicht ihre Tonerzeugnisse aufnötigen, sie würden durch Jahrhunderte an unserer Tonkunst zu zehren haben.“[35]
Neben solchen Aussagen stehen aber viele, die die Wertschätzung gegenüber der Musik und der Musikforschung außerhalb Österreichs und Deutschlands bezeugen. Adler gehört auch zu den frühesten Vertretern der Musikwissenschaft, die überzeugt waren, dieses Fach nur als internationale Unternehmung durchführen zu können. Davon legen unrealisierte Projekte wie die Monumenta historiae musices aus den 1880er Jahren, aber auch noch seine letzte große Publikation, das Handbuch der Musikgeschichte, seine Teilnahme an internationalen Kongressen und die Organisation von solchen sowie sein umfassender Briefwechsel[36] mit vielen Kollegen und Institutionen aus dem Ausland Zeugnis ab.
Quellen und externe Links
- ↑ https://musiklexikon.ac.at/0xc1aa5576_0x0001f65d
- ↑ https://musiklexikon.ac.at/0xc1aa5576_0x0001d073
- ↑ https://musiklexikon.ac.at/0xc1aa5576_0x0001daaf
- ↑ https://musiklexikon.ac.at/0xc1aa5576_0x0001d2a8
- ↑ Adler 1935, 23-27
- ↑ https://explore.gnd.network/gnd/116168609
- ↑ Adler 1935, 26
- ↑ Adler 1935, 30
- ↑ Kienle 1889
- ↑ Adler 1890
- ↑ Adler 1935, 49-53
- ↑ https://www.dtoe.at/
- ↑ Adler 1935, 36f.
- ↑ https://musiklexikon.ac.at/0xc1aa5576_0x0001d59d
- ↑ Kosch 1982
- ↑ Adler 1935, 71f.
- ↑ Adler 1935, 26, 71
- ↑ Hilscher 1995, 89
- ↑ Adler 1904
- ↑ Adler 1935, 79
- ↑ Guido Adler papers, box 15, folder 7
- ↑ https://www.musicology.org/
- ↑ Haydn-Zentenarfeier 1909
- ↑ Adler 1935, 107; Guido Adler papers, box 5, folder 8
- ↑ Adler 1935, 107
- ↑ Adler 1935, 107
- ↑ Adler 1935, 107
- ↑ Beethoven-Zentenarfeier 1927, 66-74
- ↑ Adler 1935, 111
- ↑ Adler 1935, 113; Beethoven-Zentenarfeier 1927, 35, 37
- ↑ Adler 1935, 113
- ↑ Adler 1930, 1058-1074
- ↑ Adler 1924, VII
- ↑ Boisits 2015, 153, 166
- ↑ Adler 1915, 161
- ↑ Guido Adler papers, boxes 17-36
Bibliographie
Quellen
- Adler, Guido: „Europäischer Congreß für liturgischen Gesang“. In: Das Vaterland. Zeitung für die österreichische Monarchie, Nr. 261 vom 21. September 1882, S. 3.
https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=vtl&datum=18820921&seite=3&zoom=33 - Adler, Guido: Paléographie musicale. Sammlung von phototypischen Facsimiles der hauptsächlichsten Manuscripte des gregorianischen, ambrosianischen, gallicanischen und mozarabischen Kirchengesanges. Herausgegeben von den Benedictiner-Patres von Solesmes. In: Mittheilungen des Instituts für Oesterreichische Geschichtsforschung 11 (1890), S. 327f.
- Adler, Guido: Richard Wagner. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Wien. Leipzig: Breitkopf & Härtel 1904, frz. Ausgabe: Richard Wagner. Conférences faites à l’Universitè de Vienne et revues pour la traduction française, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1909.
- Adler, Guido: Die österreichische Tonkunst und der Weltkrieg. In: Österreichische Rundschau 42/3 (1915), S. 160–169.
- Adler, Guido (Hg.): Handbuch der Musikgeschichte. Frankfurt a. M.: Frankfurter Verlags-Anstalt 1924, 2. stark erg. Aufl. Berlin-Wilmersdorf: Heinrich Keller 1930.
- Adler, Guido: Wollen und Wirken. Aus dem Leben eines Musikhistorikers. Wien: Universal-Edition 1935.
https://archive.org/details/WollenUndWirken/mode/2up - Beethoven-Zentenarfeier. Wien 26. bis 31. März 1927. Festbericht vorgelegt vom Exekutivkomitee der Feier, Wien: Universal-Edition 1927.
https://kulturpool.at/institutionen/alban-berg-stiftung/A4-082 - Haydn-Zentenarfeier. III. Kongreß der Internationalen Musikgesellschaft. Wien 25. bis 29. Mai 1909. Bericht vorgelegt vom Wiener Kongreßausschuß, Wien: Artaria 1909.
https://archive.org/details/haydnzentenarfei00inte/page/n3/mode/2up - P. Ambrosius Kienle O. S. B.: Paléographie musicale. Sammlung von phototypischen Facsimiles der hauptsächlichsten Manuscripte des gregorianischen, ambrosianischen, gallicanischen und mozarabischen Kirchengesanges. In: Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 5 (1889), 589-591.
https://archive.org/details/VierteljahrsschriftFurMusikwissenschaft1889
Sekundärliteratur
- Boisits, Barbara: Der Stellenwert des Gregorianischen Chorals in der frühen Musikwissenschaft am Beispiel Guido Adlers. In: Robert Klugseder (Hg.), Cantare amantis est. Festschrift zum 60. Geburtstag von Franz Karl Praßl, Purkersdorf: Brüder Hollinek 2014, S. 76-88.
- Boisits, Barbara: Musikwissenschaft im Ersten Weltkrieg. Der Fall Guido Adler. In: Christian Glanz / Anita Mayer-Hirzberger (Hgg.), Musik und Erinnern. Festschrift für Cornelia Szabó-Knotik, Wien: Hollitzer Wissenschaftsverlag 2014, S. 123-141.
- Boisits, Barbara: Briefe Guido Adlers über den zweiten und dritten Bayreuther Ring-Zyklus 1876. In: wagnerspectrum 11/2 (2015), S. 149-177.
- Hilscher, Elisabeth Th.: Denkmalpflege und Musikwissenschaft. Einhundert Jahre Gesellschaft zur Herausgabe der Tonkunst in Österreich (1893-1993) (Wiener Veröffentlichungen zur Musikwissenschaft 33). Tutzing: Hans Schneider 1995.
- Kosch, Franz: Mitteilungen zu Guido Adler. In: Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Musikwissenschaft (April 1983), Nr. 12, S. 12.
- Guido Adler papers, ms769. Hargrett Rare Book and Manuscript Library: The University of Georgia Libraries.
https://sclfind.libs.uga.edu/sclfind/view?docId=ead/ms769.xml;query=;brand=default
Autorin
Barbara Boisits
Onlinestellung: 17/12/2025
