Hagenbund
Der Wiener Künstlerbund Hagen (Hagenbund) zeigte 1902–12 und 1920–38 in seinem Haus regelmäßig Ausstellungen von Mitgliedern und geladenen Gästen sowie Themenausstellungen und Präsentationen anderer Veranstalter. Dabei war moderne Kunst und Architektur vorwiegend aus Zentraleuropa, aber auch aus frankophonen Ländern zu sehen. Viele der über 200 Mitglieder des Hagenbundes unternahmen Studienreisen nach Frankreich oder lebten dort und rezipierten die moderne Kunst aus Paris. Gemeinsam mit der Secession, der Galerie Miethke, der Kunstschau[1], der Neuen Galerie[2] und dem Kunstgewerbemuseum (MAK) in Wien, dem Institut Français in Innsbruck und der Grazer Secession zählte der Hagenbund zu den wichtigsten österreichischen Plattformen des Austauschs an bildender Kunst mit Frankreich.
Geschichte des Bundes

Die Lebensreformbewegung hatte um 1900 auch Wien erfasst. Die Begeisterung für junge Kunst und die Avantgarde ließ viele neue Kunstgalerien entstehen. Junge und avantgardistische Künstlerinnen und Künstler sahen Chancen auf ihren eigenen Zugang zu einem rasch wachsenden Markt. Dieses künstlerisch-ökonomische Motiv führte in München, Berlin, Wien und anderen zentraleuropäischen Städten zu Abspaltungen („Sezessionen“) von traditionellen Künstlerorganisationen. So wollten die Kunstrebellen den Verkauf ihrer Werke selbst kontrollieren. Ein weiteres Ziel der neuen Vereinigungen war die internationale Vernetzung mit Vorbildern und Gleichgesinnten, besonders aus Paris, dem damaligen Zentrum moderner Kunst.
In Wien folgte auf die Gründung der Vereinigung bildender Künstler Österreichs Secession 1897 als weitere Abspaltung von der etablierten Genossenschaft der bildenden Künstler Wiens am 3. Februar 1900 die Gründung des Künstlerbundes Hagen durch den Architekten Joseph Urban[3], den Maler Heinrich Lefler[4] und 20 weitere Künstler. Er benannte sich nach dem Wirt Josef Haagen[5], in dessen Lokal die Treffen der Gründer stattfanden. Die erste Ausstellung des bald so genannten Hagenbundes fand noch im Künstlerhaus statt. Darauf folgten Präsentationen in Brünn, in München und in der Wiener Avantgarde-Galerie Miethke. 1901 stellte die Stadt Wien der Vereinigung einen Teil der 1874 als Markthalle errichteten Zedlitzhalle in der Wiener Innenstadt zur Verfügung. Joseph Urban adaptierte die Eisenkonstruktion in einem secessionistischen Stil für einen Ausstellungssaal sowie Büros und zwei kleine Veranstaltungsräume.
Die Mitgliederpolitik und das Ausstellungsprogramm des Hagenbundes waren betont undogmatisch, weltoffen und liberal. Im Gegensatz zur Secession wurden auch Frauen aufgenommen. Man fungierte zudem häufig als Plattform für andere Künstlervereinigungen – etwa für die tschechische Vereinigung Mánes, die polnische Sztuka oder die Wiener Neukunstgruppe um Egon Schiele. Schließlich stellte der Hagenbund seine Räume mehrmals internationalen Wanderausstellungen zur Verfügung, auch solchen aus Frankreich. Nach anderweitiger Verwendung der Zedlitzhalle 1912–19 wurde dieses Programm wieder aufgenommen. Mit dem „Anschluss“ Österreichs an NS-Deutschland im März 1938 wurden die Aktivitäten sämtlicher Vereine untersagt. Auch wegen seiner zahlreichen jüdischen Mitglieder wurde der Hagenbund vom NS-Stillhaltekommissar Albert Hoffmann[6] am 29. September 1938 aufgelöst.
Beim austrofranzösischen künstlerischen Austausch im Hagenbund dominierte vor dem Ersten Weltkrieg die persönliche Exploration der Pariser Moderne. So rezipierten die international orientierten Mitglieder in Reisen, längeren Paris-Aufenthalten und Studien an den dortigen privaten Kunstschulen fast alle aktuellen Kunstströmungen. Die Bildhauerin Elsa Kövesházi-Kalmár[7] bewunderte bereits 1900 die Kunst Auguste Rodins in Paris und lebte 1912–14 dort. Ludwig Ferdinand Graf[8] (1892–94 in Paris) orientierte sich am Impressionismus und den Nabis[9], Ferdinand Michl[10] (1904–09 in Paris) am Art Nouveau, Felix Albrecht Harta[11] (1908, 1912/13 und 1926/27 in Paris) am Fauvismus und Kubismus, Georg Merkel (1905–08 und 1909–14 in Paris) und seine Frau Louise Merkel-Romée[12] an Cézanne. Michl illustrierte Pariser Zeitschriften und Harta stellte 1908 im Salon d’automne aus. Vermittelt durch den Prager Kunsthistoriker Vincenc Kramář[13] pflegten die tschechischen Hagenbund-Mitglieder Emil Filla[14] und Otto Gutfreund[15] auch persönliche Beziehungen zu Picasso[16] und Braque[17]. Weitere ordentliche und korrespondierende Hagenbund- Mitglieder, die vor dem Ersten Weltkrieg für Studien- und Arbeitsaufenthalte längere Zeit in Frankreich verbrachten, waren Arthur Oskar Alexander, Beni Ferenczy, Raimund Germela, Leopold Gottlieb, Gustav Gurschner, Wilhelm Hejda, Robert Kloss, Ludvík Kuba, Karl Mediz, Emilie Mediz-Pelikan, Rudolf Schiff und Kazimierz Sichulski.
In den Ausstellungen des Hagenbundes vor 1912 in Wien waren an französischer Kunst Werke von Jules Pascin[18] und Charlotte Chauchet-Guilleré[19] zu sehen. Deutliche französische Inspirationen durch die Kunst Cézannes, Gauguins und van Goghs präsentierte die Sonderausstellung Malerei und Plastik 1911. Die Neukunstgruppe mit Oskar Kokoschka, Albert Paris Gütersloh[20], Anton Kolig[21] und Anton Faistauer[22] zeigte hier farbintensive frühexpressionistische Bilder als Weiterentwicklung der Malerei der Nabis und des Fauvismus.

In der Zwischenkriegszeit verstärkte sich die Rezeption der französischen Moderne im Schaffen österreichischer Künstlerinnen und Künstler. Erneut lebten und arbeiteten mehrere Hagenbund-Mitglieder in Frankreich. Der Aufenthalt litt jedoch immer stärker unter den politischen Entwicklungen. Jüdische Künstler wie Josef Floch[23] (1925-41 in Paris), der in der angesehenen Galerie Berthe Weill[24] ausstellte, mussten ab 1940 vor der deutschen Besatzung flüchten. Floch ging nach Amerika. Sein Freund Willy Eisenschitz hatte schon 1912–14 in Paris studiert und lebte ab 1921 bis zu seinem Tod 1974 immer wieder in der Provence und in Paris. 1942–44 versteckte er sich in Dieulefit (Auvergne-Rhône-Alpes). Auch Viktor Tischler[25] hatte vor 1914 Studienreisen nach Frankreich unternommen und lebte ab 1928 gänzlich dort, bevor er 1941 in die USA floh. Floch, Eisenschitz und Tischler kultivierten lyrisch-mediterrane Formen der expressiven Malerei. Der Grazer Maler Ernst Paar[26] lebte 1930–33 in Paris und wurde dort zu einem der engagiertesten österreichischen Kubisten. Georg Pevetz[27] malte in einer farbintensiven Variante des Fauvismus und des Kubismus (Bekanntschaft mit Vlaminck[28] und Matisse[29]), seit er sich 1929 und erneut 1941–44 (als Besatzungsoffizier) in Frankreich aufhielt. Albert Reuss[30] verbrachte 1930 ein Jahr in Cannes und malte expressiv-kubistische Bilder. Die expressionistische Malerin Lilly Steiner, die auch Marc Chagall[31] rezipierte, lebte von 1927 bis zu ihrem Tod 1961 in Paris. Die deutsche Besatzung hatte sie im Versteck überlebt. Adolf Loos hatte 1910 für sie und ihren Ehemann, den Textilfabrikanten Hugo Steiner, ein wegweisendes Einfamilienhaus in Wien sowie 1927 die Pariser Filiale des Wiener Herrenausstatters Kniže geplant, die Steiner führte. Auch die begabte junge Emailkünstlerin und Malerin Franziska Zach[32] bezog 1930 ein Atelier in Paris. Sie arbeitete an einer Einzelausstellung, als sie im gleichen Jahr an einem Magenleiden starb. Ihre Bilder zeigen eine sachliche Fortentwicklung des Kubismus in einer reduzierten Palette an Braun- und Blautönen. Zwischen 1918 und 1938 verbrachten auch Theo Fried, Karl Josef Gunsam[33], Theodor Kern, Robert Kohl, Viktor Planckh, Frieda Salvendy, Otto Rudolf Schatz[34], Ferdinand Stransky[35] und Fritz Schwarz-Waldegg[36] längere Zeit in Frankreich.

1920-1938 waren zahlreiche Werke französischer Künstlerinnen und Künstler in drei vom Hagenbund in Kooperation mit Museen und Händlern veranstalteten Themenausstellungen und in einer übernommenen Wanderschau zu sehen. So wollte der Künstlerbund den österreichischen Kunstbetrieb – wie auch der Kunsthistoriker Hans Tietze[37] mit seiner einflussreichen Gesellschaft zur Förderung moderner Kunst – weiter öffnen und international vernetzen. Die 38. Hagenbund-Ausstellung 1921 präsentierte mittels Beständen der Albertina moderne Grafik aus Frankreich mit Werken von Cézanne, Gauguin, Matisse, Picasso, Rodin und Signac. 1927 folgte die 55. Hagenbund-Ausstellung mit der Schau Graphique française. Französische Künstler wurden hier direkt zur Beteiligung eingeladen oder über Kunsthändler rekrutiert. Die Wiener Kritik reagierte erstmals positiv auf die Werke von Braque, Chagall, Delaunay, Derain, Dufresne, Dufy, Dunoyer de Segonzac, Le Fauconnier, Gromaire, Laurencin, Matisse, Pascin, Picasso, Quenneville, Rouault und Vlaminck. Auch in der Ausstellung Europäische Plastik, die 1931 in der Zedlitzhalle in Kooperation mit Otto Kallirs[38] Neuer Galerie gezeigt wurde, waren zahlreiche bedeutende frankophone Künstler vertreten, darunter Barye, Carpeaux , Degas, Gauguin, Géricault, Lipchitz, Maillol, Meunier, Minne, Picasso, Renoir, Rodin und Zadkine. Kallir betrieb nach seiner Flucht aus Wien 1938/39 die Galerie St. Etienne in Paris. Ein Sonderfall war der deutsch-französische Maler Edgar Jené aus Saarbrücken, der 1924–28 in Paris studiert hatte. Wegen der NS-Kunstpolitik in Deutschland zog er 1935 nach Wien und beteiligte sich 1937 an der 74. Hagenbund-Ausstellung. Als Pionier des Surrealismus in Österreich spielte er nach 1945 eine wichtige Rolle im austrofranzösischen Kunstaustausch.
Ein letzter Höhepunkt des austrofranzösischen Kunstaustauschs im Hagenbund war 1934 die Präsentation der Wanderausstellung Französische Architektur der Gegenwart. Sie wurde von der Association française d’expansion et d’échanges artistiques[39] und der Société d’architectes diplômés par le gouvernement[40] organisiert. Einflussreiche nichtfranzösische Avantgarde-Architekten wie Le Corbusier und Mallet-Stevens[41], die in Paris arbeiteten, blieben jedoch ausgeschlossen. Zu sehen waren unter anderem Projekte von Perret[42] und Sauvage[43].
Das österreichisch-französische Kulturabkommen vom 2. April 1936, das von der Zweiten Republik am 15. März 1947 erneuert und ausgebaut wurde, institutionalisierte den Kulturaustausch auf zwischenstaatlicher Ebene. Im Hagenbund führte dies allerdings vor dem „Anschluss“ an NS-Deutschland 1938 zu keinen einschlägigen Projekten mehr.
Quellen und externe Links
- ↑ https://digitale-bibliothek.belvedere.at/viewer/browse/DC:kunstschau/-/1/-/-/
- ↑ https://kallirresearch.org/history/
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Joseph_Urban
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Heinrich_Lefler
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Haagengesellschaft
- ↑ https://d-nb.info/gnd/123555760
- ↑ https://www.musee-orsay.fr/fr/ressources/repertoire-artistes-personnalites/elza-koveshazi-kalmar-15607
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Ludwig_Ferdinand_Graf
- ↑ https://d-nb.info/gnd/2074197-2
- ↑ https://www.musee-orsay.fr/fr/ressources/repertoire-artistes-personnalites/ferdinand-michl-128554
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Felix_Albrecht_Harta
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Louise_Merkel-Romée
- ↑ https://d-nb.info/gnd/12225869X
- ↑ https://d-nb.info/gnd/118969161
- ↑ https://d-nb.info/gnd/118877240
- ↑ https://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb11919660r
- ↑ https://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb120557687
- ↑ https://agorha.inha.fr/ark:/54721/3d7f9c0a-ef54-423c-971b-e9064b520b0f
- ↑ https://www.musee-orsay.fr/fr/ressources/repertoire-artistes-personnalites/charlotte-chauchet-guillere-8032
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Albert_Paris_G%C3%BCtersloh
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Anton_Kolig
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Anton_Faistauer
- ↑ https://www.centrepompidou.fr/fr/ressources/personne/cezjMy7
- ↑ https://d-nb.info/gnd/139902112
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Viktor_Tischler
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Ernst_Paar
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Georg_Pevetz
- ↑ https://d-nb.info/gnd/118768808
- ↑ https://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb11915136j
- ↑ https://d-nb.info/gnd/1021136506
- ↑ https://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb118958588
- ↑ https://d-nb.info/gnd/1052682251
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Karl_Gunsam
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Otto_Rudolf_Schatz
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Ferdinand_Stransky
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Fritz_Schwarz-Waldegg
- ↑ https://geschichte.univie.ac.at/en/persons/hans-tietze
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Otto_Kallir
- ↑ https://shs.cairn.info/histoires-de-la-diplomatie-culturelle-francaise--9782494649040-page-33
- ↑ https://www.paris-belleville.archi.fr/publication/la-s-a-d-g-histoire-dune-societe-darchitectes-premiere-partie-1877-1940/
- ↑ https://d-nb.info/gnd/118781456
- ↑ https://d-nb.info/gnd/118740024
- ↑ https://d-nb.info/gnd/118957422
Bibliografie
- Die verlorene Moderne. Der Künstlerbund Hagen 1900–1938. Ausstellungskatalog, Schloss Halbturn. Wien: Österreichische Galerie 1993.
- Peter Chrastek: Frankreich und der Hagenbund. Eine Fallstudie, in: Agnes-Husslein-Arco (Hg.), Wien-Paris. Van Gogh, Cézanne und Österreichs Moderne, Ausstellungskatalog, Wien: Belvedere 2007
- Agnes Husslein-Arco, Matthias Boeckl, Harald Krejci (Hg.): Hagenbund. Ein europäisches Netzwerk der Moderne. Ausstellungskatalog. Wien: Belvedere 2014.
- Peter Chrastek (Hg.): Expressiv, Neusachlich, Verboten – Hagenbund und seine Künstler, Wien 1900–1938. Wien: Wien Museum 2016.
Autor
Matthias Boeckl
Onelinestellung : 22/08/2024