Heimito von Doderer

Heimito von Doderer (* 5. September 1896 in Hadersdorf-Weidlingau, † 23. Dezember 1966 in Wien) galt vielleicht als „österreichischster Dichter Österreichs[1]“. Seine großen Romane Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre (1951) und Die Dämonen. Nach dem Sektionsrat Geyrenhoff (1956) spielen im Wien der 1920er Jahre während der 1. Republik und haben indirekt zur Stärkung einer österreichischen Identität in der 2. Republik beigetragen.
Biografie
Doch dieses scheinbar angeborene Österreichertum ist in Wirklichkeit erst das Ergebnis einer persönlichen Entwicklung in einem in geographischer und ideologischer Hinsicht bewegten Leben. Doderers Familie stammte aus Deutschland (Heilbronn), und Heimito wurde wie die anderen fünf Kinder evangelisch getauft. Als Kriegsgefangener blieb Doderer von 1916 bis 1920 in mehreren russischen Lagern, wo er zu schreiben begann. Die russische Gefangenschaft wirkte wie eine Befreiung von den „bürgerlichen“ Erwartungen der Familie: Doderer behielt sein Leben lang ein sehr positives Bild von Russlands Landschaften und Menschen, das sich u.a. in seinem ersten Roman Das Geheimnis des Reichs (1930) und in seinem letzten (unvollendeten) Der Grenzwald (1967, posthum) niederschlug.
Neben Russland wurde aber auch Deutschland in den 1930er Jahren zu einem neuen Leitbild: Der Beitritt zur österreichischen NSDAP am 1. April 1933 und die Arbeit am antisemitisch ausgerichteten Roman Die Dämonen der Ostmark bis 1936 zeigt, wie der deutschnationale familiäre Hintergrund hier nun bestimmend wurde. Der Roman sollte den vermeintlichen Einfluss „der Juden“ im privaten Leben, in Presse und Wirtschaft in Wien anprangern. Doch nachdem Doderer in Deutschland (von 1936 bis 1938 wohnte er in Dachau) keinen Verleger für seinen Roman fand, distanzierte er sich allmählich vom Nationalsozialismus und konvertierte im April 1940 zum Katholizismus. Während des 2. Weltkriegs erfolgten eine ähnliche Bekehrung zu Österreich und seiner Literatur (er entdeckte am Anfang der 1940er Jahre Hofmannsthal und Grillparzer neu) und eine Abwendung von allem „Reichsdeutschen“.
Lehrjahre des Schriftstellers im Zeichen des französischen Realismus und Naturalismus
Doch eine dritte Kultur hat Doderers literarischen Werdegang begleitet: Über die in einer großbürgerlichen Familie üblichen Französischkenntnisse hinaus haben französische Autoren und Frankreich eine dauerhafte und für seine Romanauffassung wichtige Rolle gespielt. Obwohl Doderer nach der Rückkehr aus Russland vor allem Geschichte an der Wiener Universität studierte (aber auch „Französisch um 1500“ bei Elise Richter im Sommersemester 1922), enthalten seine frühen Tagebücher ab 1920 viele Hinweise auf seine Lektüren: Eindrücke von gelesenen Büchern oder programmatische Listen. Darunter sind französische Romanschriftsteller stark vertreten, besonders Realisten und Naturalisten. So beeindruckte ihn Balzacs[2] Eugénie Grandet noch mehr als Dostojewskis Schuld und Sühne: „Was mir hier zumeist auffiel, ist die edle Sachlichkeit der Darstellung (fast in der Art eines Berichtes), der große Wirklichkeitssinn des Autor’s, was beides das Fehlen jeder schlechten Sentimentalität zur Folge hat[3]“. Damit werden sehr früh zwei technisch-ästhetische Aspekte benannt, die Doderer immer wieder vereinigen möchte: Realismus und Ausdrucksstärke. In Balzac sieht Doderer den „eigentlichen Geschichtsschreiber seiner Zeit“, wie in Stendhal[4], wobei er letzterem seine „trockene Art“ und „unfruchtbare Härte“ vorwirft[5]. Doch die „Härte“ der Schreibweise ist beim eigentlichen Vorbild Émile Zola durch und durch positiv, wie das frühe Lob auf dessen Pot-Bouille zeigt: „Dies ist großartig; die Technik eine sehr sparsame und anspruchslose[6]“. Für Doderer ist der Naturalismus längst nicht überwunden, indem sich „eine neue Rechtfertigung für den alten Naturalismus eröffnet: nämlich eine hervorragende Rolle bei der Wiedergewinnung der Anschaulichkeit zu spielen[7]“. Noch kurz vor der Veröffentlichung der Strudlhofstiege empfindet Doderer den Naturalismus à la Zola als Gegengift gegen die verfälschende Sprache aller lebensfeindlichen Privatideologien: „Warum sollte man es nicht wagen, versuchsweise ein Zolaist zu werden?! Als Therapie![8]“
Neben Zola ist aber ein Lyriker sein noch größeres Vorbild – Baudelaire, wobei es ihm weniger um Literatur als um den geistigen und „männlichen“ Charakter geht: „Er ist für mich fast wie ein Bruder geworden – ironisch, scharf, klar, durchaus gelüftet und un-verdrängt, ein Mannsbild, das sich nicht geniert[9]“. Baudelaire wird meist aus dem posthum erschienenen Band Mon cœur mis à nu zitiert und verkörpert das Ideal des freien Künstlertums, weg von den Massen und den bürgerlichen Konventionen, sowie die Autonomie des Autors, dessen Biographie keine Bedeutung haben darf: „der Künstler geht nie aus sich heraus[10]“. Baudelaire fungiert somit als Mentor, der ihn „durch das geschriebene Wort […] zur Ordnung[11]“ ruft. Als Doderer im Frühjahr 1958 kurz nach Paris kommt, besucht er auch das Grab Baudelaires[12].
Als Offizier der Wehrmacht in Frankreich
Doderer war aber schon mehr als 15 Jahre zuvor und für längere Zeit in Frankreich gewesen: Als Offizier der deutschen Luftwaffe wurde er vom 23. August 1940 bis zum 17. April 1942 stationiert – d.h. immer wieder von einem Ort zu einem anderen versetzt, zunächst vorwiegend in der Normandie, ab Anfang 1941 in Südwestfrankreich, in Bordeaux, Biarritz und besonders Mont-de-Marsan. Seine Aufgaben bestanden in Verwaltungsarbeit für das Bodenpersonal auf Fliegerhorsten[13]. Aus Tangenten, der von Doderer selbst getroffenen Auswahl aus seinen Tagebüchern von 1940 bis 1950, erfährt man sehr wenig Konkretes über diese Zeit. Doch sowohl sein Kurzaufenthalt in Paris bei seiner Ankunft (er wohnte im Hotel Saint-Malo, 2 rue d’Odessa) als auch das angenehme Leben in mehreren anderen Städten sind ihm in guter Erinnerung geblieben. Vor allem waren diese anderthalb Jahre in Frankreich eine Zeit, in der Doderer zum Schreiben zurückfand, nachdem sein großes Romanprojekt der Dämonen gescheitert war und es ihm erst mit weniger anspruchsvollen Formen wie dem Kriminalroman (Ein Mord den jeder begeht, 1938) und dem historischen Roman (Ein Umweg, 1940) gelungen war, seine Texte bei C.H. Beck zu veröffentlichen.
In Frankreich begann Doderer den reflektierenden und abrechnenden „Epilog auf den Sektionsrat Geyrenhoff“ zu schreiben, der die Unterbrechung der Dämonen thematisiert. In Mont-de-Marsan wurden Erinnerungen an Wien wach, die die Grundlage für die Wiederaufnahme von Kulisse und Personal der Dämonen unter anderen, entpolitisierten Vorzeichen bildeten: Die drei „französischen“ Einträge stehen tatsächlich am Anfang vom „Weg zur Strudlhofstiege[14]“. Insofern spielte Frankreich für den Offizier der Besatzungsarmee von 1940 bis 1942 eine vergleichbare Rolle wie Russland für den Gefangenen von 1916 bis 1920: eine von außen auferlegte Pause in seinem Leben, die ihm einen schriftstellerischen Neuanfang ermöglichte.
Konkurrenz mit der französischen Literatur
Bei Doderers Rückkehr nach Paris 1958 war er inzwischen ein international bekannter Autor geworden, der ein Jahr zuvor den Großen Österreichischen Staatspreis erhalten hatte und sogar für den Nobelpreis vorgeschlagen worden war. Als weiteres Zeichen dieser Anerkennung hielt Doderer am 22. März 1958 in der Sorbonne den Vortrag „Grundlagen und Funktion des Romans“ vor der Société des Études Germaniques, die um dieselbe Zeit Ernst Schönwiese zu einem Vortrag über „Die österreichische Lyrik der Gegenwart“ eingeladen hatte. In „Grundlagen und Funktion des Romans“ erwähnt Doderer Baudelaires Lob auf die „Mechanik des Geistes“ und unterstreicht die „Bedeutung des Gedächtnisses“ bei Proust[15], da der an sich passive Epiker erst aus der Distanz der Erinnerung einen Stoff bearbeiten könne, seinen eigenen „Stand“ wie Jeanne d’Arc aufgeben müsse. Die Bezüge auf die französische Literatur und Kultur sind hier z.T. durch die französischen Adressaten bedingt, doch der Schlussteil des Vortrages enthält eine vernichtende Antwort auf die (für Doderer bloß intellektualistisch eingebildete) „Krise des Romans“: „der Salzburger Schnürlregen der Assoziationen bei James Joyce, die im Essayismus erstickende fadendünne Handlung bei Musil, und die geradezu gewaltige Dynamik der Langeweile bei Marcel Proust“ sind bloß Symptome einer persönlichen Krise der Autoren selbst. Waren in den 1920er und 1930er Jahren französische Romanciers aus dem 19. Jahrhundert für den jungen, sich literarisch vortastenden Doderer noch Vorbilder, so steht nun Proust als prominentes Beispiel für eine anachronistische Verirrung des Romans in den Augen eines selbstbewussten Autors, der sich selbst als künstlerisch avancierter wahrnimmt.
Die französische Literatur spielt ein letztes Mal in seinem letzten, unvollendeten Roman eine Rolle. Bei der Arbeit am Grenzwald verwendete Doderer für seinen aus seiner Sicht neuen Schreibstil einen französischen Ausdruck: „Der ,roman muet‘, die schweigende gestaltweise Erzählung, stellt den äußersten Gegensatz dar zum Schreiben über irgendetwas – sei’s im Essay oder im ,Sachbuch‘ – auf welch’ letztere Weise Sprache heute nicht mehr möglich ist, ohne journalistisch zu werden[16]“. Es ist zum einen eine Abwandlung der alten, an Balzac und Zola geübten Forderung nach Sachlichkeit und Sparsamkeit, zum anderen aber eine thematische Annäherung an den französischen Nouveau Roman seit der Mitte der 1950er Jahre: „Die Unwissenheit der Figuren wird im Roman Nouveau nicht größer sein wie in meinem Roman Muet[17]“. In den Tagebüchern werden nirgends Vertreter dieser Strömung erwähnt (etwa Robbe-Grillet[18], Sarraute[19], Butor[20]), aber Doderer scheint wichtig zu sein, dass er mit der jüngeren ästhetischen Entwicklung Schritt hält, schon durch die Ähnlichkeit der französischen Selbstbezeichnung – und dass er der Konkurrenz wohl wieder überlegen ist, wie der nächste Satz aus demselben Eintrag zeigt: „Nur fehlt im ersteren [dem französischen Nouveau Roman] ihre Ortung im fatologischen Gewebe“. Trotz einer möglichen Gemeinsamkeit in Bezug auf die Beschreibung und Funktion von Gegenständen im französischen Nouveau Roman und bei Doderer fehlt es wohl in seinen Augen an einer (realistisch-naturalistischen) Verankerung einer echten Handlung in einer konkreten, historischen, datierbaren Wirklichkeit. Dafür entgeht Doderer die experimentelle und spielerische Dimension des Nouveau Roman.
Von seinen ersten literarischen Versuchen bis zu wenigen Monaten vor seinem Tod blieben so französische Autoren eine wenig sichtbare, doch unterschwellig wichtige Größe in Doderers Romanästhetik, ob man von ihnen lernte oder sie verwarf.
Rezeption von Doderers Texten in Frankreich
Doderers Rezeption in Frankreich ist zunächst und vor allem durch Übersetzungen bestimmt: Ein Umweg wurde schon 1943 vom Schweizer Blaise Briod[21] (1896–1981) als Sursis übersetzt und in Paris bei Plon veröffentlicht. Wahrscheinlich war die treibende Kraft der Lektor des Beck-Verlages, Horst Wiemer, der in der Besatzungszeit auch kommissarischer Leiter vom Verlag Hachette in Paris war[22]. Doch deutschsprachige Literatur war nicht überraschend um diese Zeit und nach dem Krieg wenig gefragt, und diese frühe Berührung mit Frankreich blieb folgenlos.
Erst 1965 erschien ein anderer Roman Doderers in französischer Übersetzung, der aber das Zeichen seines neuen internationalen Stellenwerts war: Für Gallimard übersetzte Robert Rovini[23] (1926–1968) mit Les Démons gleich das Hauptwerk (dessen englische Übersetzung 1962 erfolgt war). Rovini hatte im selben Jahr „Grundlagen und Funktion des Romans“ übersetzt (in der Zeitschrift Les Temps modernes 21/234) und 1964 in Cahiers du sud 51/380 seinen eigenen Aufsatz „Styles et Démons“ veröffentlicht. Dieses Heft enthielt außerdem die französische Fassung vom Vortrag „Von der Wiederkehr Österreichs“ („Le renouveau autrichien“), die Doderer am 8. Mai 1964 in Athen auf Französisch gehalten hatte, sowie den Aufsatz von Ernst Erich Noth[24] „Heimito von Doderer“ – es sind die ersten Ansätze einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Doderer in Frankreich.
Ab Mitte der 1980er Jahre übersetzte Pierre Deshusses mehrere Bücher bei Rivages: Un meurtre que tout le monde commet (1986), Les Chutes de Slunj (1987), Les Fenêtres éclairées (1990), Divertimenti (1996). Der Schweizer Raymond Voyat[25] übersetzte Kurz- und Kürzestgeschichten, Histoires brèves et ultra-brèves (Périple, 1998). Erst 2020 wurde von Rachel Bouyssou und Herbert Bruch Die Strudlhofstiege übersetzt, die Doderers Ruhm zunächst in Österreich begründet hatte: L’Escalier du Strudlhof ou Melzer et la profondeur des ans (bei Carte Blanche, Montréal).
Quellen und externe Links
- ↑ Torberg in Schaffgotsch 1972, S. 167
- ↑ https://www.deutsche-biographie.de/sfz148392.html
- ↑ Doderer 1996, [1921], S. 19
- ↑ Ebd. [1925], S. 277
- ↑ Ebd. [1934], S. 636
- ↑ Ebd. [1924], S. 256–257
- ↑ Ebd. [1943], S. 1256, aus einem Brief an Lu Laporte, Lektorin bei C.H. Beck.
- ↑ Doderer 1964 [1950], S. 786
- ↑ Doderer 1996 [1939], S. 1157
- ↑ „l’artiste ne sort jamais de lui-même“ Ebd. [1939] S. 1169
- ↑ Ebd. [1938], S. 1134
- ↑ Fleischer 1996, S. 461
- ↑ Fleischer 1996, S. 301-310 ; Kleinlercher 2011, S. 99-102
- ↑ Doderer 1964, S. 101
- ↑ https://www.deutsche-biographie.de/sfz116026.html
- ↑ Doderer 1986 [1965], S. 465
- ↑ Doderer 1967 [1966], S. 268
- ↑ https://www.deutsche-biographie.de/sfz133301.html
- ↑ https://www.deutsche-biographie.de/sfz133302.html
- ↑ https://www.deutsche-biographie.de/pnd118518135.html
- ↑ https://www.deutsche-biographie.de/116521473.html
- ↑ Sommer 2020, S. 43
- ↑ https://www.babelio.com/auteur/Robert-Rovini/190452
- ↑ http://www.deutsche-biographie.de/10998689X.html
- ↑ https://www.babelio.com/auteur/Raymond-Voyat/189750
Bibliografie
Primärliteratur
- Doderer, Heimito von: Tangenten. Tagebuch eines Schriftstellers. Wien: Luckmann 1964.
- Doderer, Heimito von: Der Grenzwald. München: Biederstein 1967.
- Doderer, Heimito von: Commentarii 1957–1966. Tagebücher aus dem Nachlaß, Bd. 2. München: Biederstein 1986.
- Doderer, Heimito von: Tagebücher 1920–1939 (2 Bände). Hrsg. v. Wendelin Schmidt-Dengler, Martin Loew-Cadonna und Gerald Sommer. München: Beck 1996.
Sekundärliteratur
- Chevrel, Éric: Les romans de Heimito von Doderer. L’ordre des choses, du temps et de la langue. Berne et al.: Peter Lang 2008.
- Fleischer, Wolfgang: Das verleugnete Leben. Die Biographie des Heimito von Doderer. Wien: Kremayr & Scheriau 1996.
- Kleinlercher, Alexandra: Zwischen Wahrheit und Dichtung. Antisemitismus und Nationalsozialismus bei Heimito von Doderer. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2011.
- Schaffgotsch, Xaver (Hrsg.): Erinnerungen an Heimito von Doderer. München: Biederstein 1972.
- Sommer, Gerald: Das Werk Heimito von Doderers, übersetzt in 30 Sprachen – eine Bilanz. In: Norbert Bachleitner (Hrsg.): Literary Translation, reception and Transfer. Berlin: De Gruyter 2020, S. 41–49.
Autor
Éric Chevrel
Onlinestellung: 04/03/2025