Leo Perutz

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Leo Perutz (1954)

Während in Österreich um Leo Perutz (1882–1957) fünf Jahre nach seinem Tod Stille herrscht, bekommt 1962 sein Roman Der Marques de Bolibar in Frankreich die einzige literarische Auszeichnung, die seiner Arbeit je verliehen wurde. Es handelt sich um den „Prix Nocturne“, der gerade gestiftet wurde, um ein vergessenes phantastisches Werk wieder ins Licht zu stellen. Einer dessen Hauptorganisatoren ist Roland Stragliati[1], ein Bewunderer des Schriftstellers, der zu diesem Zeitpunkt in Verbindung mit seiner Witwe, Grete, steht und versucht, die Übersetzung seiner Texte wieder in Gang zu bringen. Die Beziehungen zwischen Perutz und Frankreich gleichen diesem Preis, der von einem auf Anonymität bedachten Jury vergeben wurde: Viele der Mitwirkenden sind unentdeckt geblieben, und dennoch zeichnet sich um den Schriftsteller ein Netzwerk wechselseitiger Vermittlungen ab, das zum Teil noch zu erforschen ist. Während man die Übersetzer der jüngsten Zeit leicht ausfindig machen kann, dürften die zahlreichen Vermittler aus der Vorkriegszeit nämlich nicht alle erfasst sein. Ihre Wiederentdeckung ermöglicht es auch, den persönlichen Anteil in Perutz’ Beziehungen zu Frankreich zu beleuchten, was wiederum dazu einlädt, sein Interesse für die französische Kultur und deren Einfluss auf seine Werke neu zu bewerten.

Biografie

Leo Perutz wurde 1882 zur Zeit der österreich-ungarischen Monarchie in Prag geboren. An der Wende zum 20. Jahrhundert lässt sich seine Familie in Wien nieder, wo der Schriftsteller dann lebt, bis er wegen seiner jüdischen Abstammung im Juli 1938 zum Exil gezwungen wird. Die sechs zwischen 1915 und 1928 in Deutschland veröffentlichten Romane (Die dritte Kugel, Zwischen neun und neun, Der Marques de Bolibar, Der Meister des jüngsten Tages, Turlupin und Wohin rollst du, Äpfelchen…) sowie der 1930 in Wien herausgegebene Novellenband Herr, erbarme Dich meiner! haben ihm Erfolg gebracht, aber nach der NS-Machtergreifung wird er aus dem deutschen Buchmarkt ausgeschlossen. Die beiden in den dreißiger Jahren in Wien erschienenen Romane (Sankt Petri-Schnee und Der schwedische Reiter) haben also weniger Resonanz, und für die beiden letzten (Nachts unter der steinernen Brücke und Der Judas des Leonardo) wird sich nach dem Krieg ein Verleger nur schwer finden. Erst in den 1980er Jahren wird sein Werk dank einer neuen vom Germanisten Hans-Harald Müller betreuten und kommentierten Ausgabe beim Wiener Verlag Zsolnay als Ganzes wiederentdeckt und neu bewertet.

Perutz’ Beziehungen zu Frankreich

Eine ähnliche Entwicklung zur vollen Anerkennung ist in Frankreich festzustellen, wo alle Romane und Novellen ebenfalls in den 1980er Jahren übersetzt werden. Nicht aber dem historischen Verleger Albin Michel ist dies zu verdanken. Von den beiden 1930 und 1931 durch Odon Niox-Château übersetzten Romanen wird nur Le Marquis de Bolibar 1970 neu herausgegeben, bevor der Verlag 1988 die Novellensammlung und 1994 zwei mit Paul Frank geschriebene Romane (Le Cosaque et le Rossignol und Le Miracle du manguier) veröffentlicht und sich so den Bemühungen anderer spät und eher am Rande anschließt, um Perutz’ Werk in Frankreich bekannt zu machen. Der 1931 unter dem Titel À la dérive… erschienene Roman wird als Où roules-tu petite pomme? bei einem anderen Verlag, Fayard, von Jean-Claude Capèle[2] neu übersetzt, der dem französischsprachigen Publikum dann fünf weitere Werke (Turlupin, La Neige de saint Pierre, La Nuit sous le pont de pierre, La troisième Balle und Le Maître du Jugement dernier) vorlegt – alle sind mit Unterstützung des Germanisten und freien Lektors Michel-François Demet[3] beim selben Verlag erschienen. Bei Phébus setzt sich der Verlagsgründer Jean-Pierre Sicre[4] selbst für den österreichischen Autor ein, der von Martine Keyser übersetzt wird (Le Judas de Léonard und Le Cavalier suédois). Unter den anderen Beteiligten bei diesem Transfer muss man Jean-Jacques Pollet[5] in doppelter Hinsicht einen besonderen Platz einräumen: Er übersetzt Zwischen neun und neun (Le Tour du cadran, Christian Bourgeois), die beiden „vierhändigen“ Romane sowie eine unter dem gleichen Titel wie in Österreich herausgegebene Sammlung von vereinzelten Texten (Nuit de mai à Vienne, Fayard), und als Germanist nimmt er die Werke des Schriftstellers auch in die an den französischen Universitäten erforschten Korpora auf.

Diese posthume Anerkennung darf nicht vergessen lassen, dass Perutz vor dem Zweiten Weltkrieg viele Beziehungen zu Frankreich unterhielt. Neben der Übersetzung der beiden schon zitierten Romane findet man verstreute Spuren, die vom Einsatz verschiedener Akteure zeugen, um – meistens über Zeitschriften – die Texte des österreichischen Autors, mit dem sie oft in Kontakt stehen, bekannt zu machen. Dies ist der Fall des deutsch-französischen Schriftstellers und Drehbuchautors Benno Vigny[6], der andererseits Charles Trénets Stiefvater ist: In den 1920er Jahren arbeitet er im Wiener Filmmilieu und kennt Perutz persönlich, von dem er eine Novelle übersetzt („Conte lunaire“, Septimanie, Februar 1926), wobei er auch vorhat, andere Texte für die Bühne (auf Deutsch) zu bearbeiten. Wenn andere Übersetzer den französischen Lesern den österreichischen Autor vorstellen, weisen sie manchmal auf noch unveröffentlichte Werke hin, was wiederum von direkten Beziehungen zeugt: So Fernand Remisch in der Zeitschrift Le Rouge et le Noir („Un jour sans soir“ und „Léo Perutz, bon artisan“, Oktober–November 1927) sowie Anno Schlösser in der zweisprachigen Revue rhénane/Rheinische Blätter („La Troisième Balle – Extrait“ und „Léon Perutz“ [sic.], Juni 1929). Remisch erwähnt auch eine abgeschlossene Übersetzung von Zwischen neun und neun, die nur noch auf einen Verleger wartet. Der Roman wird nicht in dieser Form auf Französisch erscheinen, aber der Übersetzer weist auf Firmin Gémiers[7] Projekt einer französischen Inszenierung im Pariser Odéon-Theater der von Hans Sturm für das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg angefertigten Bühnenbearbeitung hin und bedauert, dass es aufgegeben wurde. Allerdings wird die Uraufführung dieses Stücks auf Französisch in Monte-Carlo für die Spielzeit 1927–1928 angekündigt, und zwar in einer Bearbeitung von Robert de Mackiels, der später einen Roman des mit Perutz befreundeten Alexander Lernet-Holenia übersetzen wird (Aventures d’un jeune homme habillé en femme, roman viennois, Flammarion, 1934), was direkte Beziehungen zwischen den drei Männern ahnen lässt. Ebenfalls hat Raymond Henry, der „Herr, erbarme Dich meiner!“ unter dem Titel „Le Télégramme chiffré“ (Gringoire, 5. November 1937) veröffentlicht, auch zwei Romane Arnold Hoellriegels[8], eines anderen Vertrauten von Perutz, für Albin Michel übersetzt (Tu feras du cinéma, 1931, und La Petite Fille de Sainte-Hélène, 1937).

Der erstaunlichste und auch am meisten vergessene Weg aber, auf dem gegenseitige Austausche zwischen Frankreich und Österreich stattfinden, führt über die Bretagne, wo sich Perutz regelmäßig aufhält und mit François Jaffrennou[9] anfreundet: Dieser tritt unter dem Namen Taldir als Barde auf und ist einer der Hauptakteure des Neudruidentums, 1900 Mitbegründer der bretonischen Gorsedd und später auch deren Großdruide. Er betreut auch zum Teil bretonischsprachige Zeitschriften: So kann er Perutz’ Werke unterstützen, indem er regelmäßig Rezensionen zu seinen Romanen und sogar einige Jahre vor Albin Michel eine erste Übersetzung vom Marques de Bolibar veröffentlicht, die aus finanziellen Gründen unvollendet bleiben muss (Le Consortium Breton, Mai 1927–Juni 1928; An Oaled. Le Foyer Breton, 3. Trimester 1928). Da in diesem Regionalistenkreis niemand ausreichend Deutsch spricht, werden die Werke des österreichischen Autors, der seinerseits das Französische recht gut beherrscht, in ihrer englischen Übersetzung gelesen. Vorlage für diese erste französische Fassung des Marques de Bolibar von Guillaume Quénet ist ebenfalls der englische Text. Umgekehrt interessiert sich Perutz, der 1927 in die Gorsedd aufgenommen wird, für die keltische Kultur: Er verteidigt sie in Frankreich in einer Befragung über die Zukunft der europäischen Kulturen („Réponse à l’enquête“, Le Rouge et le Noir, Dezember 1927–Januar 1928) und er macht sie in Wien bekannt, indem er zu einer Matinee beiträgt, in der das mit Jaffrennou befreundete Bardenpaar Émile und Janedick Cueff bretonische, wallisische und schottische Lieder vortragen (Carltheater, 18. November 1928).

Nach dem Krieg schaltet sich der österreichische Autor erfolglos bei den französischen Behörden ein, die Jaffrennou im Juni 1945 wegen Kollaboration verurteilt haben, ebenso wie er einige im Nationalsozialismus kompromittierte Wiener Bekannte zu unterstützen versucht. Freundschaft über politische Entscheidungen zu stellen, bedeutet nicht, dass man deren ideologische Voraussetzungen teilt, und Perutz’ Interesse für den bretonischen Regionalismus ist bestimmt nicht im Sinne einer identitären Selbstbehauptung zu verstehen. Ganz im Gegenteil plädiert er im Namen der Achtung vor dem Schwächeren in Le Rouge et le Noir dafür, dass Frankreich der keltischen Sprache einen Platz im Unterricht und im öffentlichen Leben einräumt. In diesem Argument ist der Respekt wiederzufinden, die der Schriftsteller unterdrückten Minderheiten entgegenbringt, ob es sich nun um die brutal kolonisierten Azteken in Die dritte Kugel oder um die dem Wohlwollen des Kaiserhofs preisgegebene jüdische Gemeinschaft in Nachts unter der steinernen Brücke handelt. In „Der Nationalfeiertag im Dorfe[10]“ berichtet Perutz – den Barden Taldir beiläufig erwähnend – von zahlreichen bretonischen Volksfesten sowie vom Feiern des 14. Juli in einem Dorf der Region, wahrscheinlich Loctudy[11], wo er regelmäßig Urlaub machte, und er schließt seinen Artikel mit einem merkwürdigen Vergleich zwischen den gutmütigen, aber etwas chaotischen Spielen dieser Volksfeier und dem ungeordneten, aber siegreichen Sturm auf die Bastille. In sozialer Hinsicht führt die Kritik von Herrschaftsverhältnissen tatsächlich zur Frage der Revolution, auf die Perutz in seinen Werken zu wiederholten Malen zurückgekommen ist, sei es im Kontext des 20. Jahrhunderts (Wohin rollst du, Äpfelchen…, Sankt Petri-Schnee) oder des französischen Ancien Régime (Turlupin, Der Vogel Solitär, ein unvollendeter Roman, von dem drei Kapitel in den zwanziger Jahren erschienen sind und mit einem weiteren unveröffentlichten in Mainacht in Wien wiederaufgenommen werden). Dabei vertritt er den Standpunkt eines skeptischen Humanisten angesichts der Umkehrung von Idealen in revolutionäre Gewalt, und auch diese Perutz’sche Signatur ist mit wechselseitigem Kulturaustausch verbunden: Dabei zeigt sich, wie sich der Schriftsteller die französische Kultur aneignet und sie für das deutschsprachige Publikum umgestaltet. Man kann darin nämlich ein Vermächtnis Victor Hugos erkennen, von dem Perutz Bug-Jargal unter dem Titel Flammen auf San Domingo (übers. v. J. Kalmer, Berlin, Josef Singer, 1929) und vor allem Quatre-vingt-treize unter dem Titel Das Jahr der Guillotine (in Zusammenarbeit mit O. Levett, Berlin, Ullstein, 1925) bearbeitet hat, einen Roman, der ihn lange begleitete, wie er im Vorwort zu dieser weitgehend umgeschriebenen Fassung betont. Perutz als treuer Vermittler des französischen Schriftstellers zu betrachten, ist wohl unmöglich: Er ordnet das üppige Romanmaterial der Originaltexte neu und verkürzt sie nach eigener Darstellung im Hinblick auf erzählerische Effizienz. Aber seine Kenntnis davon ist tief genug, dass er die Überlegungen seines großen Vorgängers über den zwischen Idealismus und Schreckensherrschaft georteten revolutionären Prozess in seine eigenen Fiktionen einfließen lassen kann und somit einen Teil der französischen Kultur in die deutschsprachige Literatur unterschwellig überträgt.

Quellen und externe Links

Bibliografie

Leo Perutz’ Werke (Ausgabe von Hans-Harald Müller (Wien: Zsolnay) und Übersetzungen ins Französische

  • Die dritte Kugel. [1915] 1994. La Troisième Balle. Übers. Jean-Claude Capèle. Paris: Fayard 1987.
  • Zwischen neun und neun. [1918] 1993. Le Tour du cadran. Übers. Jean-Jacques Pollet. Paris: Christian Bourgois 1988.
  • Der Marques de Bolibar. [1920] 1989. Le Marquis de Bolibar. Übers. Odon Niox Château. Paris: Albin Michel [1930] 1970/1991.
  • Der Meister des jüngsten Tages. [1923] 1989. Le Maître du Jugement dernier. Übers. Jean-Claude Capèle. Paris: Fayard 1989.
  • Turlupin. [1924] 1995. Turlupin. Übers. Jean-Claude Capèle. Paris: Fayard 1986.
  • Wohin rollst du, Äpfelchen… [1928] 1987. Où roules-tu, petite pomme ? Übers. Jean-Claude Capèle. Paris: Fayard 1989.
  • Herr, erbarme Dich meiner! [1930] 1985. Seigneur, ayez pitié de moi ! Übers. Ghislain Riccardi. Paris: Albin Michel 1988.
  • Sankt Petri-Schnee. [1933] 1987. La Neige de saint Pierre. Übers. Jean-Claude Capèle. Paris: Fayard 1987.
  • Der schwedische Reiter. [1936] 1990. Le Cavalier suédois. Übers. Martine Keyser. Paris: Phébus 1987.
  • Nachts unter der steinernen Brücke. [1953] 1988. La Nuit sous le pont de pierre. Übers. Jean-Claude Capèle. Paris: Fayard 1987.
  • Der Judas des Leonardo. [1959] 1988. Le Judas de Léonard. Übers. Martine Keyser. Paris: Phébus 1987.
  • Mainacht in Wien. 1996. Nuit de mai à Vienne. Übers. Jean-Jacques Pollet. Paris: Fayard 1999.

Werke von Leo Perutz und Paul Frank und Übersetzungen ins Französische

  • Das Mangobaumwunder. Eine unglaubwürdige Geschichte. [1916] und Der Kosak und die Nachtigall. [1928] München: Langen Müller 1991.
  • Le Miracle du manguier. Une histoire invraisemblable. Übers. Jean-Jacques Pollet. Paris: Albin Michel 1994.
  • Le Cosaque et le rossignol. Übers. Jean-Jacques Pollet. Paris: Albin Michel 1994.

Sekundärliteratur im Überblick

  • Jacquelin, Evelyne: Leo Perutz en France : les cheminements paradoxaux de la traduction. In: Irène Cagneau, Sylvie Grimm-Hamen, Marc Lacheny (Hrsg.): Les traducteurs, passeurs culturels entre la France et l’Autriche. Berlin: Frank & Timme 2020 (Forum: Österreich 10), S. 159–180.
  • Müller, Hans-Harald: Leo Perutz. Biographie. Wien: Zsolnay 2007.
  • Müller, Hans-Harald, Eckert, Brita (Hrsg.): Leo Perutz 1882–1957. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek Frankfurt a. M. Wien, Darmstadt: Zsolnay 1989.
  • Siebauer, Ulrike: Leo Perutz. „Ich kenne alles. Alles, nur nicht mich“. Gerlingen: Bleicher 2000.

Autor

Évelyne Jacquelin

Onlinestellung: 01/03/2025