Ludwig Wittgenstein

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Ludwig Wittgenstein, 1930, Foto von Moriz Nähr

Ludwig Wittgenstein (geboren am 26. April 1889 in Wien, gestorben am 29. April 1951 in Cambridge) ist in Frankreich erst spät entdeckt worden und wird erst in den sechziger-siebziger Jahren zum Gegenstand von Studien und Übersetzungen. Diese Rezeption entwickelt sich insbesondere durch die Arbeiten von Jacques Bouveresse und seinen Schülern, so dass Wittgenstein schließlich zu einer zentralen Figur der französischen Forschung im Bereich der Philosophie wird.

Biografie

Die Rezeption von Ludwig Wittgenstein in Frankreich hat spät eingesetzt. Mit Ausnahme von Jean Cavaillès[1], der bereits in den dreißiger Jahren den Tractatus logico-philosophicus liest, ein Werk, das er für eine der wesentlichen Inspirationsquellen des Wiener Kreises[2] hält, muss man bis Ende der fünfziger Jahre und auf die Veröffentlichungen von Arbeiten von Wittgenstein 1959 in den Zeitschriften Revue de métaphysique et de morale sowie Critique [3] warten. Die erste Übersetzung des Tractatus logico-philosophicus sowie des Werks Philosophische Untersuchungen (unter dem Titel Investigations philosophiques) durch Pierre Klossowski erscheint 1961 bei Gallimard. Diese Übersetzungen gelten allgemein als fehlerhaft und unvollständig, was zu späteren Neuübersetzungen führt: 1993 der Tractatus logico-philosophicus übersetzt von Gilles-Gaston Granger, Neuausgabe von Christiane Chauviré, Sabine Plaud und Sandra Laugier, Flammarion 2022, Philosophische Untersuchungen 2004 unter dem Titel Recherches philosophiques.

Gilles-Gaston Granger[4] gehört zu den allerersten Forschern, die 1969 eine umfassende Präsentation von Wittgensteins Werk liefern, begleitet von einer Textauswahl[5]. Im gleichen Jahr organisiert er ein Kolloquium in Aix-en-Provence: Wittgenstein et le problème d’une philosophie de la science (Wittgenstein und das Problem einer Philosophie der Wissenschaft[6]). Außer Granger sind u.a. folgende Beiträger zu nennen: Jules Vuillemin[7] (« Remarques sur 4.442 du Tractatus », „Bemerkungen zu 4.4412 des Tractatus“), Jean-Claude Pariente[8] (« Bergson et Wittgenstein », „Bergson und Wittgenstein“), sowie Jacques Bouveresse (« La notion de ‘grammaire’ chez le second Wittgenstein », „Der Begriff ‚Grammatik‘ beim zweiten Wittgenstein“, wiederaufgenommen unter dem Titel « La compétence, l’usage et l’usage de la compétence », „Die Kompetenz, der Gebrauch und der Gebrauch der Kompetenz“[9].

Jacques Bouveresse (1940–2022), der den Namen Wittgenstein zum ersten Mal 1961 in einer Vorlesung von Jules Vuillemin an der École normale supérieure gehört hat[10], wird fortan eine bedeutende Rolle als Vermittler von Wittgensteins Werk in Frankreich spielen. Zwischen 1971 und 2022 hat Jacques Bouveresse wesentlich dazu beigetragen, Wittgenstein zu einer zentralen Referenz in der französischen Philosophie Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts zu machen. Meilensteine sind dabei folgende Publikationen: Das Erscheinen von La Parole malheureuse (1971), „Das unglückliche Wort“, dann 1975 seine Habilitationsschrift Le mythe de l’intériorité (1976), „Der Mythos der Innerlichkeit“, eine über siebenhundert Seiten lange Publikation, die in der deutschsprachigen und anglophonen Sekundärliteratur nicht ihresgleichen kennt, und schließlich das posthume Werk Les vagues du langage. Le « paradoxe » de Wittgenstein ou comment peut-on suivre une règle ?, „Sprachwellen. Wittgensteins ,Paradoxon‘ oder wie kann man eine Regel befolgen?“

Es ist insbesondere Bouveresse zu verdanken, dass Wittgensteins zweite Werkphase in Frankreich bekannt wurde, d.h. Wittgensteins Arbeiten seit dem „grammatical turn“, der „grammatikalischen Wende“ der Recherches philosophiques – ein Wittgenstein, dem er nähersteht als dem ersten Wittgenstein, dem des Tractatus, obgleich seine Interpretation wohl stärker als die anderer Interpreten die Kontinuität betont. Allgemein gesehen analysieren die Wittgenstein gewidmeten Arbeiten von Bouveresse alle wesentlichen Themen, sei es die Frage der Bedeutung und der Möglichkeit einer Privatsprache, sei es zu wissen, was es bedeutet, eine „Regel zu befolgen“, die Frage des Sinns und des Unsinns, des Antiplatonismus in Wittgensteins Philosophie der Mathematik oder seine Behandlung von ethischen, religiösen und ästhetischen Fragen. Weit davon entfernt nur ein Spezialist der Philosophiegeschichte oder Kommentator zu sein, entwickelt Bouveresse vielmehr, sozusagen in Wittgensteins Gesellschaft, eine eigenständige Reflexion über die Sprache, die den „Mythos der Bedeutung“ zurückweist, einen Realismus ohne Metaphysik praktiziert, und eine Kritik der Philosophie, deren „unglückliches Wort“ (La Parole malheureuse), um den Titel seiner ersten Veröffentlichung aufzugreifen, außerstande ist, etwas zu sagen und auch nicht sagen kann, was es zu sagen vermeint.

In den siebziger Jahren stellt Bouveresse Wittgensteins Werk Pierre Bourdieu vor, der 1977 in seiner Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales[11] eine Übersetzung von Remarques sur Le Rameau d’or de Frazer / „Bemerkungen über The Golden Bough von Frazer“ veröffentlicht. Bourdieu vertritt die Meinung, dass „Wittgenstein wohl der Philosoph ist, der ihm in schwierigen Momenten am meisten nützlich war[12]“. Und einer seiner letzten Beiträge ist sein Vortrag auf dem am Collège de France organisierten Kolloquium „Wittgenstein, le sociologisme et la science sociale“, „Wittgenstein, Soziologismus und Sozialwissenschaft“, 14.-16. Mai 2001[13].

Jacques Bouveresse hat zur französischen Rezeption Wittgensteins auch durch seinen Unterricht an der Sorbonne, dann am Collège de France beigetragen, wo er eine ganze Generation von Forschern ausgebildet und begleitet hat, insbesondere Christiane Chauviré und Sandra Laugier, welche bis heute die Wittgenstein-Studien fortgeführt, bereichert und erneuert haben.

Quellen und externe Links

Bibliografie

Primärliteratur

  • Wittgenstein, Ludwig : Tractatus logico-philosophicus, trad. Pierre Klossowski. Paris : Gallimard 1961 ; trad. Gilles Gaston-Granger. Paris : Gallimard 1993 ; trad. Christiane Chauviré et Sabine Plaud. Paris : Flammarion 2022.
  • Wittgenstein, Ludwig : Recherches philosophiques, trad. Françoise Dastur, Maurice Élie, Jean-Luc Gautero, Dominique Janicaud, Elisabeth Rigal. Paris : Gallimard 2004.

Sekundärliteratur

  • Bourdieu, Pierre : Choses dites. Paris : Minuit 1987.
  • Bourdieu, Pierre : « Wittgenstein, le sociologisme et la science sociale ». In : Pierre Bourdieu, Jacques Bouveresse et alii : Wittgenstein : Dernières pensées. Marseille : Agone 2002.
  • Bouveresse, Jacques : La Parole malheureuse. Paris : Minuit 1971.
  • Bouveresse, Jacques : Wittgenstein : la rime et la raison. Science, éthique et esthétique. Paris : Éditions de Minuit 1973.
  • Bouveresse, Jacques : Le Mythe de l’intériorité. Expérience, signification et langage privé chez Wittgenstein. Paris : Éditions de Minuit 1976.
  • Bouveresse, Jacques : La Force de la règle. Wittgenstein et l’invention de la nécessité. Paris : Éditions de Minuit 1987.
  • Bouveresse, Jacques : Le Philosophe et le réel. Entretiens avec Jean-Jacques Rosat. Paris : Hachette-Littératures 1998.
  • Bouveresse, Jacques : Les vagues du langage. Le « paradoxe » de Wittgenstein ou comment peut-on suivre une règle ? Paris : Seuil 2022.
  • Cavaillès, Jean : « L’École de Vienne au Congrès de Prague ». In : Revue de Métaphysique et de morale vol. 42 (1) (1936), p. 137–149.
  • Chauviré, Christiane : Voir le visible. La seconde philosophie de Wittgenstein. Paris : PUF 2003.
  • Chauviré, Christiane : Wittgenstein en héritage. Paris : Kimé 2010.
  • Gillot, Pascale et Marrou, Élise (dir.) : Wittgenstein en France. Paris : Kimé 2022.
  • Granger, Gilles-Gaston : Wittgenstein. Paris : Seghers 1969.
  • Granger, Gilles-Gaston (dir.) : Wittgenstein et le problème d’une philosophie de la science. Paris : Éditions du CNRS 1970.
  • Hadot, Pierre : Wittgenstein et les limites du langage. Paris : Vrin 2004.
  • Laugier, Sandra : Du réel à l’ordinaire. Paris : Vrin 1999.
  • Laugier, Sandra : Wittgenstein. Les sens de l’usage. Paris : Vrin 2009.
  • Sebestik, Jan et Soulez, Antonia : Wittgenstein et la philosophie d’aujourd’hui. Paris : L’Harmattan 2001.
  • Soulez, Antonia : Wittgenstein et le tournant grammatical. Paris : PUF 2003.

Autor

Christian Bonnet

Übersetzt von Hélène Belletto-Sussel

Onlinestellung: 21/03/2025