Theodor Herzl

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Theodor Herzl (1860-1904)

1878 zieht die Familie nach Wien, wo Theodor Herzl (* 2. Mai 1860 in Pest, Königreich Ungarn; † 3. Juli 1904 in Edlach an der Rax, Niederösterreich sein Studium der Rechtswissenschaft absolviert, den Titel eines Dr. iur. erwirbt und versucht, sich als Dramaturg einen Platz zu machen. Dank seines Talents als Feuilletonist wird er bei der berühmtesten Tageszeitung, der Neuen Freien Presse (NFP) angestellt, zuerst als Korrespondent in Paris, wo er von Anfang Oktober 1891 bis Ende Juli 1895 lebt. In diesen Jahren informieren Theodor Herzls Chroniken die NFP-Leser über die französischen Geschehnisse, sowohl im politischen und kulturellen als auch im wirtschaftlich-sozialen Bereich. Sein erster Beitrag am 11.Oktober 1891 ist eine Darstellung des wegen eines Komplottes gegen den Staat angeklagten Général Boulanger[1], der sich erst ein paar Tage zuvor, am 30. September, am Grab seiner Geliebten das Leben genommen hat. Am 5. Januar 1895 liefert er in der Abendausgabe der NFP einen Bericht über die Degradierung von Hauptmann Dreyfus[2] am Morgen desselben Tages im Hof der École militaire. Herzls Reportagen und Chroniken trugen dazu bei, in Wien und in Österreich ein bestimmtes Bild des damaligen Frankreichs zu vermitteln, dem er zwar Sympathie entgegenbrachte, das er aber auch mit kritischer Distanz beurteilte.

Herzl und Frankreich

Herzl nimmt die von einigen der schwersten Krisen in der Geschichte der Dritten Republik erschütterte französische Gesellschaft unter die Lupe und behandelt dabei immer wieder die sogenannte „Judenfrage“, für ihn die Gelegenheit, seine Kenntnis der österreichischen und mitteleuropäischen Verhältnisse im Licht des vom Panamaskandal und von der Dreyfus-Affäre geschürten Aufflammens des Antisemitismus zu erweitern. „In Paris, schreibt Herzl am Anfang seines Zionistischen Tagebuchs, [kam ich] in ein freieres und höheres Verhältniss zum Antisemitismus, von dem ich wenigstens nicht unmittelbar zu leiden hatte[3]“. Nicht von ungefähr konzipiert er in Paris an Pfingsten 1895 und in den folgenden Tagen das in Der Judenstaat (1896) dargelegte zionistische Projekt.

Seinem literarischen Talent verdankt Herzl seine Anstellung bei der NFP. Seine im September 1891 in der NFP veröffentlichten Reisebilder aus den französischen Pyrenäen (Beiträge über Luz, Lourdes und Biarritz) waren ein großer Erfolg. Vor seiner Ankunft in Paris am 6. Oktober 1891 hatte er sich noch nie wirklich für das politische, wirtschaftliche und soziale Leben interessiert. Er war vor allem bemüht gewesen, im Wiener Literaturleben Fuß zu fassen. Während er in den Pariser Jahren gewissenhaft den Pflichten eines mit allen Bereichen des französischen Geschehens beauftragten Journalisten nachging, hörte er nie auf, regelmäßig ins Theater zu gehen, und sein politisches Denken wurde ständig von der Literatur genährt. Laut Clemens Peck sollte Herzls zionistisches Projekt auf der Grundlage eines „Austauschprozesses zwischen literarischer Imagination und Politik“ Form annehmen[4]“.

Dem regelmäßigen Zuschauer der parlamentarischen Debatten im Palais Bourbon kommt die Abgeordnetenkammer vor wie eine Bühne, auf der Theaterstücke – manchmal Possen – gespielt werden. Sein Maurice Barrès[5] gewidmeter Artikel über „den Feind der Gesetze“, der zuerst als Beitrag im Feuilleton der NFP vom 17. März 1894 veröffentlicht wurde[6], ist einer der brillantesten der Sammlung Der Palais Bourbon. Bilder des französischen parlamentarischen Lebens. So der Anfang: „Ein Theaterstück ist verboten worden“, und so die abschließende Feststellung: „Er sieht die hundert verschiedenen Masken der Politiker und das Geflimmer ihres Durcheinanderlaufens nicht.“ Herzl spottet nicht nur über Barrès als Boulanger-Anhänger, der zwischen 1889 und 1893 als Abgeordneter der Stadt Nancy fungierte, und nicht über das geringste Rednertalent verfügt habe, sondern auch über den Autor eines schlechten Theaterstücks, Une journée parlementaire (Ein Tag im Parlament), das Ende Januar 1894 wegen seines zügellosen Antiparlamentarismus von der Zensur verboten wurde. Diese chargierte Darstellung von Barrès bietet ein kontrastierendes Gegenstück zum begeisterten, 1891 von Hugo von Hofmannstahl der Trilogie Le Culte du moi (Kult des Ich) gewidmeten Essay.

Schon ab 1892 pflegt Herzl regelmäßige Beziehungen mit Alphonse Daudet[7] und macht bei ihm die Bekanntschaft von Édouard Drumont[8], dem Autor des antisemitischen Pamphlets La France juive (Das jüdische Frankreich), der im April 1892 die ebenso stark antisemitische Tageszeitung gründet, La libre parole (Das freie Wort). Drumont bewirkt bei Herzl eine eigenartige Mischung aus Bewunderung für den Künstler und Entsetzen angesichts des antisemitischen Agitators. In seinem Bericht des von Auguste Burdeau, dem Vizepräsidenten des Parlaments, gegen Drumont eingeleiteten Verleumdungsprozesses, der ihn der Bestechung durch die Rothschild-Bank bezichtigt hatte, zitiert und betont Herzl Drumonts Worte: „Meine Künstlerphantasie verleitet mich manchmal, ein Detail zu erfinden, das die Aufmerksamkeit erregen soll[9]“. Am 12. Juni 1895 trägt Herzl Folgendes in sein Tagebuch ein: „Drumont verdanke ich viel von der jetzigen Freiheit meiner Auffassung, weil er ein Künstler ist[10]“. Drumont hat seinerseits in einer Besprechung über Der Judenstaat Herzls zionistisches Projekt begrüßt[11], der Titel seines Artikels lautet Une solution de la question juive (Eine Lösung der Judenfrage, La Libre Parole, 16. Januar 1897), etwas später begrüßt er den Kongress von Basel mit einer zynischen Formulierung : „Die Juden machen ihr Glück, indem sie unseres machen[12]“.

In Herzls Pariser Beiträgen für die NFP wird der französische Antisemitismus gerne als weniger aggressiv dargestellt als der weiter im östlichen Europas grassierende Judenhass. In seinem Bericht über den Tod des Hauptmanns Antoine Mayer am 23. Juni 1892 in einem Duell gegen den Édouard Drumont nahestehenden Marquis von Morès, dessen Ursprung eine Kampagne der Libre Parole gegen die Anwesenheit von Israeliten in der französischen Armee gewesen war, meint Herzl, die großen Erinnerungen an die Revolution, […] haben Frankreich nicht davor behütet, daß nach hundert Jahren die häßliche Fratze des Antisemitismus auch im Lande Voltaire’s auftauchte[13]. Herzl betont jedoch die imponirende Entschiedenheit, mit welcher in Frankreich den antisemitischen Angriffen auf die Armee entgegengetreten wird, ibid. , diesem Beispiel, schreibt er, sollte man im deutschen Reich folgen.

In seiner Darstellung der „französischen Antisemiten“ im September 1892 behauptet Herzl zuerst, der Antisemitismus hatte in Frankreich bis in die jüngste Zeit etwas Gutartiges[14]. Auch wenn der Antisemitismus seit dem Ende des Boulangismus mutiert hat, setzt er fort, werden die Juden [hier] nicht dem Pöbel hingeworfen[15]. Herzl zitiert dann auf Französisch einen Satz aus dem Buch von Mermeix (dies war das Pseudonym von Gabriel Terrail, einem boulangistischen Journalisten und Abgeordneten, der im September 1891 aus der boulangistischen Bewegung ausgeschlossen worden war), Les Antisémites en France. Notice sur un fait contemporain[16] : „Die nationale Masse ist den patriotischen Alarmrufen der Antisemiten gleichgültig geblieben“.

Sieben Jahre später sollte Herzl einen ganz anderen Standpunkt vertreten: „Tod den Juden! heulte die Menge, als man dem Hauptmanne seine Tressen vom Waffenrock riß. […] Das Volk, wenigstens ein sehr großer Teil davon, will nicht mehr die Menschenrechte für die Juden. […] Zum Zionisten hat mich […] der Prozeß Dreyfus gemacht. Nicht der jetzige in Rennes, sondern der ursprüngliche in Paris, dessen Zeuge ich 1894 war[17] In diesen Zeilen gestaltet Herzl seinen autobiographischen Mythos. Vor Pfingsten 1895 ist er kein Zionist, zum Dreyfusard wird er erst später.

In einer im Feuilleton der NFP-Ausgabe vom 17. Oktober 1894[18] erschienenen Theaterrezension mit dem Titel Pariser Theater. Ältere Stücke erwähnte er ein paar Wochen vor Anfang der Affäre eine neue Inszenierung von La femme de Claude (Claudes Frau) von Alexandre Dumas dem Jüngeren[19] im Théâtre du Gymnase und kommentierte die Passage, II. Akt, 1. Szene, in der Daniel, ein jüdischer Freund von Claude, Folgendes erklärt: „Wir wollen nicht mehr eine Gruppe sein, wir wollen ein Volk sein, mehr als ein Volk, eine Nation […] Eine definitive, territoriale Heimat ist für uns wieder notwendig“; so : „Daniel weiß, daß den Juden mit ihrer historischen Heimat nicht mehr gedient wäre. […] Und wenn die Juden wirklich „heimkehrten“, so würden sie am anderen Tage entdecken, daß sie längst nicht mehr zusammengehören. Sie wurzeln seit Jahrhunderten in neuen Heimaten, nationalisirt, von einander verschieden, in einer Charakter-Ähnlichkeit nur durch den sie überall umgebenden Druck erhalten“.

Bereits am 1. November 1894 meldet unter dem Titel „Verrat“ die Libre Parole von Drumont die Festnahme eines jüdischen Offiziers, und schon am 17. November veröffentlicht Bernard Lazare in der (von Georges Clemenceau[20] geleiteten) Zeitung La Justice einen Das neue Ghetto betitelten Artikel, der erst ein paar Tage erscheint, nachdem Herzl die ursprüngliche Fassung seines Theaterstücks Das neue Ghetto abgeschlossen hat (in der jegliche Spur des zionistischen Denkens fehlt). In diesem Artikel erwägt Lazare die Möglichkeit, dass die gegen Hauptmann Dreyfus erhobene Anschuldigung eine Folge der nun in Frankreich herrschenden „antisemitischen Gesinnung“ sei.

Herzl erkennt nicht sofort die entscheidende Rolle des Antisemitismus in Dreyfus‘ Verurteilung. Er wohnt am 19. Dezember 1894 der Eröffnung des Prozesses gegen Dreyfus bei, doch in seinen ersten Artikeln[21] wird nicht angedeutet, dass die Spionage-Anschuldigung eine Auswirkung des Antisemitismus sein könnte. Nach dem am 22. Dezember verkündeten Urteil hängt er seinem Beitrag ein Postskriptum an: Das Extrablatt der Morès’schen “Terre de France” knüpft an die Meldung von der Verurtheilung Dreyfus’ heftige antisemitische Ausfälle[22]. In seiner Bilanz des politischen Geschehens in Frankreich Ende Dezember, unterstreicht er, dass die Verurteilung von Dreyfus mehrfach von den Antisemiten vereinnahmt wurde[23], zitiert aber als einziges Beispiel die Haltung von Jean Jaurès (am 24. Dezember 1894 ist in der Abgeordnetenkammer über das System der vom Kodex der Militärjustiz vorgesehenen Strafen debattiert worden. An diesem Tag ist Jaurès der Meinung, dass Dreyfus schuldig ist und dass man über seinen Verrat die Todesstrafe hätte verhängen können. Er meint, die Tatsache, dass Dreyfus der Todesstrafe entkommen ist, lasse sich allein durch „ein fantastisches Engagement der jüdischen Macht, um einen ihrer Angehörigen zu retten“ erklären – so seine Worte in L’Ébranlement[24].

Nach der Degradierung von Hauptmann Dreyfus am 5. Januar 1895 schickt Herzl seiner Redaktion eine erste Depesche, worin der Antisemitismus unerwähnt bleibt[25], dann zur Ergänzung eine präzisere Kurznotiz: Die Menge draußen […] stieß wiederholt die Rufe aus: „Zu Tode mit dem Verräther![26]”. Axel Bein schreibt, es habe in Herzls Depesche „Zu Tode mit den Juden“, geheißen, die NFP-Redaktion habe Herzls Text korrigiert[27].

Herzl war sich nicht sofort der historischen Bedeutung der Dreyfus-Affäre bewusst. In der in Paris verfassten und auf Pfingsten 1895 (d.h. auf den 2. Juni) datierten Einleitung zu seinem Zionistischen Tagebuch wird Dreyfus nicht erwähnt. Und als er am 27. Juli 1895 Paris verlässt, hat Herzl zwar den ersten Teil der Strecke auf dem Weg zum politischen Zionismus hinter sich, aber er ahnt noch nicht das gesamte Ausmaß der Affäre. Bis zum letzten Tag seiner Tätigkeit als Pressekorrespondent hat er den NFP-Lesern ein eher beruhigendes Bild der französischen Gesellschaft vermittelt.

Quellen und externe Links

  1. https://www.larousse.fr/encyclopedie/personnage/Georges_Boulanger/109702
  2. https://d-nb.info/gnd/118527460
  3. Zionistisches Tagebuch 1983, S. 45
  4. Peck 2012, S. 61
  5. https://www.universalis.fr/encyclopedie/maurice-barres/
  6. „Das Palais Bourbon. III – Der Feind der Gesetze », S. 1-4
  7. https://www.universalis.fr/encyclopedie/alphonse-daudet/
  8. https://www.universalis.fr/encyclopedie/edouard-drumont/
  9. Prozeß Burdeau gegen Drumont, NFP, 16. Juni 1892, S. 8
  10. Zionistisches Tagebuch, 1983, S. 127
  11. Übersetzung L’État juif. Essai d’une solution de la question juive in der Nouvelle Revue internationale, 1896, Nr. 2, S. 842-860 ; 1897, Nr. 1, S. 19-40
  12. Der Baseler Kongress. Der Zionismus, Das freie Wort, 30. August 1897
  13. „Der Tod des Hauptmannes Mayer“, NFP, 28. Juni 1892, Nr. 2
  14. „Französische Antisemiten“, NFP, 3. September 1892, S. 1-2, Zitat S. 1
  15. ibid, S. 2
  16. Paris : E. Dentu 1892, Die Antisemiten in Frankreich. Bemerkung zu einem zeitgenössischen Tatbestand
  17. Theodor Herzl, Zionismus, aus: North American Review, 1899, in: Herzl 1920, S. 255-266, Zitat S. 257 sq.
  18. S. 1-4
  19. https://gallica.bnf.fr/essentiels/dumas-fils
  20. https://d-nb.info/gnd/118676407
  21. Process Dreyfus, NFP, 20. Dezember 1894, S. 10; Fortsetzung mit dem gleichen Titel, NFP, 22. Dezember 1894, S. 9
  22. „Proceß Dreyfus“, NFP, 23. Dezember 1894, S. 8
  23. Politische Übersicht, NFP, 27. Dezember 1894, S. 1
  24. La Dépêche, Toulouse, 26. Dezember 1894, S. 1
  25. „Die Degradation des Capitäns Dreyfus“, NFP, 5. Januar 1895, Abendblatt, S. 1-2
  26. Die Degradation des Capitäns Dreyfus », NFP, 6. Januar 1895, Morgenblatt, S. 9
  27. Bein, 1983, S. 91

Bibliografie

  • Bein, Alex : Theodor Herzl. Biographie. Franfurt/Main – Berlin – Wien: Ullstein 1983 (Ullstein-Materialien, Nr. 35163), vom Autor durchgesehene Neuauflage (Erstveröffentlichung: Wien: Fiba-Verlag, 1934).
  • Herzl, Theodor : Briefe und Tagebücher, éd. par Alex Bein, Hermann Greive, Moshe Schaerf, Julius H. Schoeps, vol. 1 : Briefe und autobiographische Notizen 1866-1895 ; vol. 2 : Zionistisches Tagebuch 1895-1899. Berlin – Frankfurt/Main - Wien : Propyläen 1983 (Journal 1895-1904. Le fondateur du sionisme parle, morceaux choisis, trad. Paul Kessler, Paris : Calmann-Lévy 1990).
  • Herzl, Theodor : Das Palais Bourbon. Bilder aus dem französischen Parlamentsleben. Leipzig : Duncker & Humblot 1895 (Le Palais-Bourbon. Tableaux de la vie parlementaire française, trad. Paul Kessler. La Tour d’Aigues (Vaucluse) : éditions de l’aube 1995).
  • Herzl, Theodor : Feuilletons. Berlin : Benjamin Harz 1903.
  • Herzl, Theodor : Zionistische Schriften, éd. par Leon Kellner. Berlin : Jüdischer Verlag 11905, 2 vol., 1920 (en un vol.).
  • Pawel, Ernst : Theodor Herzl ou Le Labyrinthe de l’exil, trad. Françoise Adelstain. Paris : Seuil 1992 (The Labyrinth of Exile. A Life of Theodor Herzl. New York : Farrar, Straus & Giroux 1989).
  • Peck, Clemens : Im Labor der Utopie. Theodor Herzl und das „Altneuland“-Projekt. Berlin : Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2012.
  • Schoeps, Julius H. : Theodor Herzl und die Dreyfus-Affäre. Wien: Picus (Wiener Vorlesungen, vol. 34) 1995.

Autor

Jacques Le Rider

Deutsche Übersetzung von Hélène Belletto-Sussel

Onlinestellung: 01/02/2025