Verlag Hartleben
Der Verlag Hartleben (1803–) war, was die Produktion von Übersetzungen betrifft, unter den österreichischen Verlagen quantitativ mit großem Abstand führend. Bei Hartleben erschienen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hunderte Übersetzungen populärer Romane aus dem Französischen.
Geschichte des Verlags
Der Verlagsgründer Conrad Adolf Hartleben (1778–1863) stammte aus einer deutschen Juristenfamilie. 1803 eröffnete er in Pest eine Sortiments- und Verlagsbuchhandlung, deren Produktion in den Bereichen Geschichte, Völkerkunde, Geographie, Jus, Linguistik, Naturwissenschaften und nicht zuletzt Belletristik sie schon bald unter die wichtigsten österreichischen Verlage aufsteigen ließ. 1844 wurde der Hauptsitz der Firma nach Wien verlegt, ferner schien auf den Titelblättern ihrer Verlagswerke fortan auch Leipzig als Standort auf, was wohl den lebenswichtigen Zugang zum deutschen Markt öffnen sollte. Zudem war die sächsische Zensur vor 1848 bei weitem großzügiger als die österreichische, was nicht zuletzt für die Veröffentlichung französischer Romanliteratur günstigere Voraussetzungen schuf. Nach dem Tod C. A. Hartlebens übernahm sein Großneffe Adolf die Firma, dieser bestellte aber mit Eugen Marx einen äußerst betriebsamen Geschäftsführer, der – seit 1892 auch als Inhaber – die Firma bis 1918 führte.
In den 1840er Jahren boomte das Übersetzen von Romanliteratur in den deutschen Staaten, in Österreich wurde der Aufschwung des Übersetzungswesens in stark verkleinertem Maßstab mitvollzogen. Neben der Behinderung durch die Zensur war das für den nun um sich greifenden spekulativen Buchhandel nötige Kapital knapp. Bis 1835 hatte man in Österreich gewohnheitsmäßig in den deutschen Staaten erschienene Übersetzungen nachgedruckt. Diese Faktoren hatten die Entstehung eines florierenden Übersetzungsbetriebs verhindert. Das Lesepublikum und die Nachfrage waren dennoch vorhanden. So sprach Constant von Wurzbach, der Bibliothekar des Innenministeriums, in einem statistischen Bericht über die österreichische Buchproduktion des Jahres 1854 von einer „grosse[n] lesende[n] Masse“ (Wurzbach 1856, 124), von der er befürchtete, dass sie durch die Lektüre französischer Romane moralisch und politisch verdorben würde. Der überwiegende Teil der 179 Übersetzungsbände und Lieferungen in dem von Wurzbach ausgewerteten Jahrgang, von denen 154 Übertragungen aus dem Französischen darstellten, stammte aus Hartlebens Produktion[1]. Bis zur Jahrhundertwende blieb Hartleben jedoch eine Ausnahmeerscheinung im lahmenden österreichischen Übersetzungsbetrieb.
1846 begann der Verlag eine Publikationsreihe mit dem Titel Belletristisches Lesecabinet der neuesten und besten Romane aller Nationen in sorgfältigen Uebersetzungen (mit leichten Variationen der Bezeichnung), in der bis zu ihrem Ende im Jahr 1879 1008 Bände in 3039 Lieferungen erschienen. Die Lieferungen eigneten sich für den Vertrieb auf dem Weg der Kolportage, zu der auch der moderate Preis von 21 Kreuzern je Lieferung passte. Für Hartleben arbeiteten sowohl aus Österreich – z. B. Josef Alois Moshamer oder Anton Langer – als auch aus deutschen Staaten stammende Übersetzer:innen – z. B. August Diezmann und August Kretzschmar. Die beiden zuletzt Genannten betrieben das Übersetzerhandwerk in großem Stil: Angesichts des enormen Umfangs der unter ihrem Namen erschienenen Produktion kann man davon ausgehen, dass sie mit Hilfskräften zusammenarbeiteten.
Neben dem Belletristischen Lesecabinet brachte der Verlag 1868–1873 Paul de Kocks Gesammelte neuere humoristische Romane in 130 Bänden, denen 1875–1877 Ältere humoristische Romane in 31 Bänden folgten, und 1869–1874 Alexandre Dumas’ Romantische Meisterwerke in 93 Bänden heraus. Auch unter den im Belletristischen Lesecabinet übersetzten Autor:innen ragen quantitativ Dumas père und Paul de Kock heraus. Stark vertreten sind ferner die übrigen Stars des französischen Feuilletonromans, namentlich Eugène Sue, Xavier de Montépin, Paul Féval, der Marquis de Foudras und George Sand[2]. Nur ausnahmsweise finden sich in der Reihe später kanonisierte Autoren wie Théophile Gautier und Gustave Flaubert. Zu den genannten Ausgaben und Reihen gesellte sich schließlich eine Gesamtausgabe der Romane Jules Vernes in 55 Bänden (1874–1889, fortgesetzt in diversen anderen Ausgaben bis 1910). Zum Unterschied von dem Belletristischen Lesecabinet wurden Vernes Werke in einer illustrierten Prachtausgabe und weit billigeren Volks- und Familienausgaben (unter anderem in der ‚Collection Verne‘, 1887–1910) aufgelegt.
Die Texte der Übersetzungen enthalten durchgehend Anzeichen von flüchtiger Arbeit und Fehler, vor allem aber fällt auf, dass die Ausgangstexte teilweise für ein zart besaitetes Publikum bearbeitet wurden – naheliegend ist, dass insbesondere in Österreich Verbote zu befürchten waren. Die Vorzensur war seit 1848 zwar abgeschafft, aber politisch oder moralisch missliebige und religionskritische Passagen, die gegen Paragraphen des Strafgesetzes verstießen, konnten zu Anklage, Prozess und gegebenenfalls Beschlagnahme führen. Verlage, Herausgeber und Übersetzer:innen versuchten dem durch vorauseilende Selbstzensur gegenzusteuern. So fehlen in der Übersetzung von Flauberts Madame Bovary (1858) Passagen, in denen der Abbé Bournisien sich als gar nicht vorbildlicher Geistlicher, sondern schlicht als grober Klotz erweist. Auch seine Debatten mit dem Apotheker Homais über die katholische Religion, die jeder Vernunft widerspreche und mit ihren Ritualen dem Theater ähnle, wurden ersatzlos gestrichen. Ebenso wurden so manche Szenen aus dem Eheleben der Bovarys, in denen Charles keine gute Figur macht, entschärft. Vermeintlich Häßliches und Geschmackloses fanden die Bearbeiter:innen offenbar ebenfalls als unzumutbar, kurzum: Madame Bovary wurde ad usum delphini verunstaltet[3].
Die Jules Verne-Übersetzungen weisen ebenfalls diverse Mängel auf[4]. Von Interesse ist aber vor allem, dass sie in die Jahrzehnte fielen, in denen aufgrund zwischenstaatlicher Verträge – in diesem Fall zwischen Frankreich und den deutschen Staaten, etwa mit Sachsen 1856 bzw. dem Deutschen Reich und mit Österreich 1866 – Übersetzungen autorisiert werden mussten. Sie waren dafür im Gegenzug auf zehn Jahre gegen Konkurrenzübersetzungen geschützt, aber ihre Herstellung verteuerte sich. Nach und nach stellten die ‚Übersetzungsfabriken‘, so das abfällige Schlagwort der Kritik, die das rein kommerziell orientierte und massenhafte Übersetzen vornehmlich aus dem Französischen aufs Korn nahm, ihren Betrieb ein. Auch Hartleben beendete sein Belletristisches Lesecabinet im Jahr 1879. Die Rechte für die Jules Verne-Übersetzungen hatten Hartleben 100.000 Francs gekostet, nach Ablauf der Zehnjahresfrist machte ihm der Leipziger Verleger Unflad Konkurrenz mit einer billigen Neuausgabe, bald darauf auch der Verlag Weichert in Berlin, mehrere andere Verlage folgten. Diese Konkurrenten übten starken Preisdruck aus, daher war trotz (oder wegen der) Autorisierung ab den 1880er Jahren mit Erst-Übersetzungen kaum noch Gewinn zu machen. Dies dürfte der Hauptgrund für Hartlebens Rückzug aus dem Geschäft mit Belletristik gewesen sein, die bei ihm vorwiegend aus Übersetzungen bestanden hatte.
Quellen und externe Links
Bibliografie
- Bachleitner, Norbert: „Wurstartig gedrehte Teufelchen“. Bemerkungen zur ersten deutschen Übersetzung von Flauberts Madame Bovary. In: Literatur ohne Grenzen. Festschrift für Erika Kanduth. Unter Mitarbeit von Monika Pauer hg. v. Siegfried Loewe, Alberto Martino, Alfred Noe. Frankfurt/Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien: Peter Lang 1993, S. 1–19.
- Bachleitner, Norbert: Übersetzungsfabrik C. A. Hartleben. Eine Inspektion. In: Klaus Amann, Hubert Lengauer, Karl Wagner (Hg.): Literarisches Leben in Österreich 1848–1890. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2000, S. 319–339.
- Bruny, Martin: Die Verlagsbuchhandlung A. Hartleben. Eine Monographie. Diplomarbeit Univ. Wien 1995.
- Madame Bovary, oder: Eine Französin in der Provinz. Aus dem Französischen des Gustav Flaubert. Deutsch von Dr. Legné. 3 Teile. Pest, Wien und Leipzig: Hartleben’s Verlags-Expedition 1858.
- Wurzbach von Tannenberg, Constant: Bibliographisch-statistische Übersicht der Literattur des österreichischen Kaiserstaates vom 1. Jänner bis 31. December 1854. Zweiter Bericht erstattet im hohen Auftrage seiner Excellenz des Herrn Ministers des Innern Alexander Freiherrn von Bach. Zweite vermehrte Auflage. Wien: K. K. Hof- und Staatsdruckerei 1856.
Autor
Norbert Bachleitner
Onelinstellung: 02/07/2024