Wiener Verlag

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Der „Wiener Verlag“ war einer der wenigen österreichischen Verlage, die um 1900 in bemerkenswertem Umfang Belletristik herausbrachten; unter dieser Rubrik spielte die französische Literatur naturgemäß eine führende Rolle.

Geschichte des Verlages

Die Vorgängerfirma des „Wiener Verlags“ war der Verlag von Leopold Rosner, der bedeutende österreichische Autorinnen und Autoren der Zeit (Anzengruber, Bauernfeld, Ebner-Eschenbach, Kürnberger u.a.) verlegte, sich aber vor allem durch eine äußerst umfangreiche Publikation von Theatertexten einen Namen machte. Im Verlagskatalog von 1880 umfasst Rosners Reihe „Neues Wiener Theater“ bereits 104 Titel, von denen mehr als ein Fünftel Übersetzungen aus bzw. Bearbeitungen nach dem Französischen waren. Die prominentesten Namen in Rosners Katalog sind Alexandre Dumas fils, Théodore de Banville, Victorien Sardou, Alphonse Daudet und das Duo Millaud-Offenbach[1]. 1885 verkaufte Rosner wegen finanzieller Schwierigkeiten die Reihe an die Wallishaussersche Hofbuchhandlung. 1899 ging das gesamte Unternehmen in den Besitz von Oskar Friedmann und Carl Wilhelm Stern über und wurde auf „Wiener Verlag“ umbenannt, ehe 1903 Fritz Freund die Leitung der Firma übernahm. Er vervielfachte die Buchproduktion, druckte für die Zeit exorbitant hohe Auflagen, arbeitete mit prominenten Buchillustratoren wie Berthold Löffler, Heinrich Vogeler oder Emil Orlik zusammen, bezahlte ansehnliche Honorare und investierte großzügig in die Werbung. Der spekulative Verlagsstil ging schief, Freund verschuldete sich durch seine groß angelegten Unternehmungen dermaßen, dass er 1908 Bankrott machte. Die Geschäfte kamen zum Stillstand, nur auf dem Papier existierte die Firma noch bis 1929.

Im Verlagsprogramm finden sich zahlreiche renommierte österreichische Autoren und Autorinnen, darunter zum Beispiel Robert Musil (Die Verwirrungen des Zöglings Törless), Artur Schnitzler (Reigen), Hugo von Hofmannsthal und Ferdinand von Saar. Komplementär dazu begründete Freund 1903 eine „Bibliothek berühmter Autoren“, die ausschließlich Übersetzungen aus der französischen, englischen, skandinavischen, polnischen und russischen Literatur herausbrachte. In dieser „Bibliothek“ finden sich Autoren der Weltliteratur wie Dostojewski, Strindberg, Tolstoi, Tschechow, Mark Twain und Oscar Wilde. Der Schwerpunkt lag aber auf der französischen Literatur, die mit Balzac, Barbey d’Aurevilly, Paul Bourget, Georges Courteline, Huysmans, Pierre Louys, Maupassant, Catulle Mendès, Octave Mirbeau, Édouard Rod und den Belgiern Camille Lemonnier und Georges Rodenbach vertreten ist[2]. Innerhalb von zwei Jahren erschienen 50 Bände zu dem sehr billigen Preis von 50 Pfennig für jeden der – allerdings meist schmalen – Bände[3]. Die für ein solches Produktionsvolumen nötige rasche Arbeit führte dazu, dass die Qualität der Übersetzungen, wie Stichproben zeigen, äußerst dürftig ausfiel[4].

Provokation und Skandal gehörten offensichtlich zum Verlagskonzept, klar erkennbar ist eine Vorliebe für sozialkritische, antiklerikale und erotische Literatur. In dieses Programm fügten sich Octave Mirbeaus Werke perfekt ein. Der Naturalist ist mit sechs Titeln der im „Wiener Verlag“ am häufigsten vertretene französische Autor. Die ‚Pikanterien‘ des Journal d’une femme de chambre, übersetzt als Tagebuch einer Kammerjungfer (1901), die in Bauernmoral (1902) sowie in Laster und andere Geschichten (1903) gesammelten Erzählungen und der antiklerikale Grundton von Der Abbé (1903) und Der Herr Pfarrer und andere Geschichten (1904) waren offensichtlich geeignet, ein gutbürgerliches Publikum zu provozieren, sie riefen aber auch die Zensurbehörden auf den Plan. Fritz Freund musste wegen Handels mit pornographischer Literatur wiederholt vor Gericht erscheinen. Zudem wurden so manche Titel des „Wiener Verlags“ in Deutschland und Österreich verboten.

War der „Wiener Verlag“ in der Vermittlung Mirbeaus in deutscher Sprache führend, so zeigte auch der Verlag Gustav Grimm in Budapest – übrigens im Gefolge einer deutschen Gesamtausgabe von Zolas Rougon-Macquart-Zyklus – mit drei Mirbeau-Titeln auffallendes Interesse an dem anrüchigen Autor. Unter anderem produzierte Grimm eine Konkurrenzübersetzung des Journal d’une femme de chambre. Zum Unterschied von Grimm, der sich über urheberrechtliche Aspekte hinwegsetzte und die in Ungarn herrschende relative Großzügigkeit in Zensurfragen ausnützte, hatte der „Wiener Verlag“, wie es der Vertrag zwischen Frankreich und Österreich von 1866 vorsah, die Autorisation des französischen Verlegers eingeholt[5].

Unter den in Österreich verbotenen Titeln fand sich auch das Tagebuch einer Kammerjungfer[6]. In seinen Werbetexten wies Freund darauf hin, dass das Buch zwar verboten, aber dennoch auf den vom Berliner Literarischen Echo zusammengestellten Listen der meistgelesenen Bücher der Saison 1900/1901 vertreten war. Wie dies Verlage häufig taten, deutete er das Verbot zu einem Qualitätsmerkmal um. Der Roman wurde nach § 516 des österreichischen Strafgesetzbuches verboten, der „gröbliches Ärgernis verursachende Verletzung der Sittlichkeit“ sanktionierte. Österreichische Literatur-Verbote wurden in der Wiener Zeitung und in der Österreichischen Buchhändler-Korrespondenz veröffentlicht, dabei wurde meist auf die das Verbot begründenden Textpassagen hingewiesen. Im Fall von Mirbeaus Tagebuch einer Kammerjungfer handelt es sich um mehr als zwanzig Textstellen[7]. Der Großteil dieser Passagen enthielt Beschreibungen sexueller Aktivitäten, aber auch die Religion wurde in Schutz genommen. So wurde die Stelle als unzumutbar erachtet, an der Célestine in einem ihrer vielen inneren Monologe durchblicken lässt, dass von einem Dienstmädchen ganz allgemein sexuelle Dienstleistungen erwartet werden. Auch sie selbst habe sich dieser eingeführten Praxis nicht immer zu entziehen vermocht, aber stets Trost in der Religion gefunden, durch die sie sich von ihren Sünden losgesprochen fühlte. Die Religion betrachtet sie geradezu als eine Art Versicherung, die sie in ihrem Lebenswandel bestärkt und davor bewahrt habe, zur Prostituierten abzusinken:

Ach, wenn man die Religion nicht hätte! Nicht das stille Beten in den Kirchen An den Abenden, an denen man gerade arg in der Tunke sitzt und moralisch niedergeschlagen ist ..., wenn man sich da nicht zur Mutter Gottes flüchten könnte und zum heiligen Antonius von Padua und zum ganzen übrigen Kalender, da wäre man noch weit übler daran ... Das steht fest! ... Und was dann aus einem würde, bis wohin man sinken könnte, das weiß nur der Teufel![8]

Bis 1918 mussten österreichische Verlage mit Verboten ihrer Produkte rechnen. Zweifellos hatte der „Wiener Verlag“ aber, bevor das Verbot in Kraft trat, bereits eine erkleckliche Anzahl von Exemplaren abgesetzt. Sein Stammpublikum wusste um die Gefahr und hatte sicher rasch zugegriffen, ganz abgesehen davon, dass die Zensur im großen Deutschen Reich weniger streng vorging.

Quellen und externe Links

  1. vgl. Verlagskatalog L. Rosner 1880
  2. vgl. Reyhani 1971
  3. Hall 1985, S. 88
  4. siehe Bachleitner 2001, S.399–401
  5. dazu Bachleitner 2001, S. 397f.
  6. siehe Junker 1902, S. 22
  7. siehe Amtsblatt zur Wiener Zeitung 1901
  8. Mirbeau 1901, S. 12

Bibliografie

  • Amtsblatt zur Wiener Zeitung und Central-Anzeiger für Handel und Gewerbe, Nr. 163, 18.7.1901.
  • Bachleitner, Norbert: Traduction et censure de Mirbeau en Autriche. In: Cahiers Octave Mirbeau 8 (2001), S. 396–403.
  • Hall, Murray G.: Österreichische Verlagsgeschichte 1918–1938. Bd. 1: Geschichte des österreichischen Verlagswesens. Wien, Köln, Graz: Böhlau 1985.
  • Junker, Carl: Catalogus Librorum in Austria Prohibitorum. Supplementum I. Verzeichnis der in Oesterreich von Ende 1895 bis Ende 1901 für den Buchhandel wichtigen Verbotenen Druckschriften mit Ausschluss derjenigen in den slavischen Sprachen. Wien 1902.
  • Mirbeau, Octave: Tagebuch einer Kammerjungfer. Wien: Wiener Verlag 1901.
  • Reyhani, Brigitte: Das literarische Profil des Wiener Verlages von 1899. Diss. masch. Graz 1971.
  • Verlagskatalog von L. Rosner in Wien. Wien, 20. October 1880.

Autor

Norbert Bachleitner

Onelinstellung: 30/09/2024