Peter Altenberg

Peter Altenberg (*9. März 1859, † 8. Januar 1919 in Wien) war wie die meisten Wiener Autoren um 1900 ein eifriger Rezipient französischer Literatur; durch die häufigen Erwähnungen französischer Autoren und Zitate aus ihren Werken in seinen frühen Skizzen trug er nicht unwesentlich auch zum kulturellen Transfer bei.
Biografie
Richard Engländer, so Altenbergs bürgerlicher Name, 1859 in eine jüdische Wiener Kaufmannsfamilie geboren, studierte nach dem Gymnasium einige Semester Jus und Medizin. Nachdem ihm Ärzte bereits am Beginn der 1880er Jahre ein überempfindliches Nervensystem und die Unfähigkeit, ein bürgerliches Erwerbsleben zu führen, attestierten, verbrachte er seine Zeit vornehmlich in den Cafés Griensteidl und Central mit Freunden wie den Autoren des Jungen Wien, Egon Friedell[1], Karl Kraus und Adolf Loos. Seine nervösen Störungen und seine Schlaflosigkeit versuchte er durch Alkohol- und Drogenkonsum zu bekämpfen, auch ließ er sich wiederholt in Nervenheilanstalten behandeln. 1919 starb er an den Folgen einer Lungenentzündung[2].
Altenberg und die französische Literatur
Von der Mitte der neunziger Jahre bis zu seinem Tod publizierte Altenberg elf Sammlungen von Prosaskizzen. Insbesondere sein Frühwerk weist zahlreiche Spuren französischer Literatur auf, deshalb stehen hier sein Erstling Wie ich es sehe (1896) und die ebenfalls frühe Sammlung Was der Tag mir zuträgt (1901) im Mittelpunkt. Dass er die Sprache gut beherrschte, zeigt sich daran, dass er eine Reihe seiner Skizzen auf Französisch verfasste. Französische Literatur war schon früh Teil seiner Lektüren. In autobiographischen Skizzen erwähnt er, dass sein Vater ein großer Bewunderer Victor Hugos war, vorwiegend französische Literatur las und die Revue des Deux Mondes abonniert hatte. Altenberg zitiert Hugos Romane Les Travailleurs de la mer, Les Misérables und Han d’Islande, spezielle Reverenz erweist er L’homme qui rit: Er benützt das durch durchtrennte Gesichtsnerven erzwungene Grinsen der Hauptfigur dieses Romans als Allegorie der sozialen Konventionen, und insbesondere der Maske gespielter Freundlichkeit[3].
Neben bereits zu Klassikern erhobenen Autoren wie Victor Hugo beschäftigt man sich in den literarischen Kreisen Wiens um die Jahrhundertwende vor allem mit den zeitgenössischen Vertretern des Naturalismus und des Symbolismus. In Altenbergs Skizzen tauchen Bewunderer Maupassants[4] auf, man geht ins Theater, um Fromont jeune et Risler aîné von Alphonse Daudet[5] zu sehen, oder man liest in Zolas Germinal. Mit dem Naturalismus verbindet Altenberg die möglichst exakte Beobachtung der Natur. Er betont diesen Aspekt, wenn er über die möglichen Lesarten des Titels Wie ich es sehe bemerkt, dass der Akzent nicht auf dem ich liege, sondern auf sehen. Der Naturalismus scheint für Altenberg ferner wegen seines Programms der vorurteilslosen empirischen Erforschung aller Lebensbereiche und Milieus von Interesse gewesen zu sein. Darauf deutet z.B. hin, daß Germinal laut Altenberg Einblick in den „Keller“ der Menschheit eröffnet[6].
Bei aller Wertschätzung für den Naturalismus haben doch symbolistische und dekadente Autoren weit tiefere Spuren in seinen Schriften hinterlassen. Paul Verlaine wird von ihm beispielsweise als „‚Organismus gewordene‘ Welten-Freiheit“ glorifiziert[7]. Großes Interesse zeigte Altenberg auch für Spielarten des Exotismus, er berichtete etwa 1894 begeistert von der Lektüre von Pierre Lotis[8] Japan-Roman Madame Chrysanthème. Empfindungen und Sinneseindrücke beschreibt Altenberg, um sie bei den Lesenden auszulösen. Insofern entspricht seine Poetik der von Hermann Bahr im Anschluss an Ernst Mach verkündeten Nervenkunst. Ein Minimum an Worten soll ein Maximum an Atmosphäre erzeugen, die Leser:innen sollen den knappen Text in Gedanken weiterspinnen. Hier bestehen Ähnlichkeiten zu Maurice Maeterlinck und seinem in Le Trésor des humbles vertretenen Kult des Schweigens. Mit Maeterlinck, den er wiederholt in seinen Skizzen anspricht, teilt Altenberg auch die Unzahl von in die Texte eingefügten Gedankenstrichen, die Ausgespartes oder Unsagbares bzw. ganz allgemein Nachdenkpausen markieren. Die beiden Autoren, die in seinen Skizzen die tiefsten Spuren hinterlassen haben, sind aber zweifellos Huysmans[9] und Baudelaire.
Wie ich es sehe stellt der Verfasser ab der zweiten Auflage, möglicherweise angeregt durch eine Rezension Hermann Bahrs[10], eine Passage aus Huysmans’ Roman À rebours voran. Die von Altenberg geringfügig gekürzte Passage stammt aus dem vierzehnten Kapitel und enthält einen Auszug aus Des Esseintes’ Ansichten über die zeitgenössische Literatur. Dessen bevorzugte Form ist das Prosagedicht, ein Roman, „concentré en quelques phrases qui contiendraient le suc de centaines de pages.“ Die Leser:innen könnten über die Bedeutung solcher Texte lange meditieren und ihren Sinn ausloten: „En un mot, le poème en prose représentait, ainsi composé, pour le duc le suc concret, l’osmazome de la littérature, l’huile essentielle de l’art, l’art bavard réduit en sobre silence, la mer de la prose réduite en une goutte de poésie![11]“
Das Prosagedicht, von dem Des Esseintes hier schwärmt, war eine Domäne Baudelaires, für den passionierten Flaneur Altenberg mussten vor allem die Szenen des Lebens in der Großstadt aus Le Spleen de Paris vorbildlich sein. Enge Entsprechungen weisen etwa Altenbergs Skizze „Nächtliche Szene“ über ein von seinem Kutscher misshandeltes Fiakerpferd und Baudelaires Prosagedicht „Un Plaisant“ mit einem misshandelten Esel auf[12]. Darüber hinaus wurden als wichtige, mit Altenberg vergleichbare poèmes en prose Gaspard de la Nuit von Aloysius Bertrand[13] und Croquis Parisiens von Huysmans genannt[14], von ihnen fehlt in Altenbergs Werk aber jede konkrete Spur.
Altenbergs Skizzen oder Studien, wie er sie selbst nannte, sind im Grunde Prosagedichte, auch wenn sie nach französischem Verständnis nicht alle Kriterien der Gattung erfüllen[15]. In Was der Tag mir zuträgt fügt Altenberg dem von Huysmans gelieferten Theoriebaustein den gerade Furore machenden Liebigschen Fleischextrakt hinzu. Seine Texte seien „Extracte des Lebens. Das Leben der Seele und des zufälligen Tages, in 2–3 Seiten eingedampft, vom Überflüssigen befreit wie das Rind im Liebig-Tiegel!“ Den Leser:innen bleibe es überlassen, „diese Extracte aus eigenen Kräften wieder aufzulösen, in geniessbare Bouillon zu verwandeln, aufkochen zu lassen im eigenen Geiste[16]“.
Die Huysmans entlehnte Metapher des literarischen Extrakts wird hier mit Altenbergs diätetischem Reformeifer angereichert. In allen seinen Büchern predigte er die Lebensreform und trat insbesondere für gesunde Ernährung ein. Obwohl sein Lebensstil, nach allem, was man darüber weiß, eher dem von Des Esseintes ähnelte, wirbt er in seinen Texten für naturnahes Leben und gesunde Ernährung und interpretiert Décadence und Krankheit als Durchgangsstationen zu Gesundheit. Das Mittel zur Umkehr ist ebenfalls von Huysmans entlehnt, und zwar aus dessen Roman En route, der aus der Phase der Rückkehr des Autors zum Katholizismus stammt. Eine in dekadenter Selbstreflexion befangene junge Frau liest in dem Roman von der Heiligen Lidvine, die nach fünfunddreißig Jahren der Suche, nach Krankheit, Kasteiung und Leiden, zu Gott gefunden hat[17]. Die nervenkranke junge Frau wird dem Beispiel der Heiligen folgen. Die Szene erhält dadurch zusätzliches Gewicht, dass sie den Band beschließt. Auch wenn er ihn selbst nicht gegangen ist, beschreibt Altenberg hier den von vielen zeitgenössischen Autoren eingeschlagenen Weg, der von der Dekadenz zu Regeneration führt, sei es mit Hilfe der Religion, des Nationalismus oder eben der Rückkehr zur Natur. Ausführlich kehrt Altenberg in dem späteren Band Märchen des Lebens zu À rebours zurück. „Krankheit ist eine Gabe des Himmels; man erfährt es nämlich plötzlich, wie ungeschickt man in den gesunden Tagen gewirtschaftet habe![18]“ liest man dort. Man sollte nicht vergessen, dass auch in Huysmans’ ‚Bibel der Dekadenz‘ der Duc des Esseintes, auch wenn der Wandel vermutlich zu spät kommt, am Ende zu einem gesünderen Lebensstil gezwungen wird.
Quellen und externe Links
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Egon_Friedell
- ↑ Zur Biographie vgl. Barker 1998.
- ↑ Altenberg 1896, S. 94f.
- ↑ https://d-nb.info/gnd/118579207
- ↑ https://d-nb.info/gnd/118523872
- ↑ Altenberg 1896, S. 92
- ↑ Altenberg 1921, S. 78
- ↑ https://d-nb.info/gnd/118780522
- ↑ https://d-nb.info/gnd/118555111
- ↑ Barker 1998, S. 108
- ↑ Altenberg 1922, S. IXf.
- ↑ dazu Bachleitner 2001, S. 531–533
- ↑ https://d-nb.info/gnd/118656805
- ↑ Schoenberg 1989
- ↑ so Couffon 1999, S. 37
- ↑ Altenberg 1921, S. 6
- ↑ Altenberg 1896, S. 245f.
- ↑ Altenberg 1919, S. 200
Bibliografie
Primärliteratur
- Altenberg, Peter: Wie ich es sehe. Berlin: S. Fischer 1896. 16. bis 18. vermehrte Auflage. Berlin: S. Fischer 1922.
- Altenberg, Peter: Märchen des Lebens. 5. und 6. veränderte und vermehrte Auflage. Berlin: S. Fischer 1919.
- Altenberg, Peter: Was der Tag mir zuträgt. Fünfundsechzig neue Studien. 9. bis 11. Auflage. Berlin: S. Fischer 1921.
Sekundärliteratur
- Bachleitner, Norbert: Peter Altenberg, la décadence et l’esthétique du poème en prose. In: Revue de littérature comparée 75 (2001), Nr. 4, S. 527–542.
- Barker, Andrew: Telegrammstil der Seele. Peter Altenberg – Eine Biographie. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1998.
- Couffon, Miguel: Peter Altenberg. Érotisme et vie de bohème à Vienne. Paris: Presses universitaires de France 1999.
- Schoenberg, Barbara Z.: The Influence of the French Prose Poem on Peter Altenberg. In: Modern Austrian Literature 22 (1989), Nr. 3–4, S. 15–32.
Autor
Norbert Bachleitner
Onlinestellung: 11/12/2024