Alexander Girardi

Der Gesangskomiker und Charakterdarsteller Alexander Girardi (* 5. Dezember 1850 in Graz, † 20. April 1918 in Wien) trat über beinahe 50 Jahre hinweg an einer Reihe von Wiener Bühnen in zahlreichen aus dem Französischen übersetzten bzw. adaptierten Stücken auf und trug mit seiner spezifischen Darstellungskunst wesentlich dazu bei, wie diese Stücke vom Publikum der betreffenden Theater aufgenommen wurden.
Biografie
Girardi war der wohl populärste Repräsentant des Wiener Theaters im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Obwohl er – der gebürtige Grazer – mit dem Fortschreiten seiner Bühnenlaufbahn den Zeitgenossen und Zeitgenossinnen zunehmend als Inbegriff des ‚Wienerischen‘ erschien und im Feuilleton und von prominenten Literaten der Moderne (Hermann Bahr, Alfred Kerr[1], Alfred Polgar, Felix Salten) in diesem Sinn gleichsam verklärt wurde, war er als besonders erfolgreiches und vom Publikum geschätztes Ensemblemitglied verschiedener Wiener Privat-(Vorstadt-)theater zugleich ein wichtiger Vermittler französischer Bühnengenres. Girardis Repertoire von den 1870er bis hin zu den 1910er Jahren dokumentiert die wechselnden Konjunkturen, die die französische Operetten- und Schwankproduktion in Wien (und damit in Österreich) im betreffenden Zeitraum durchlief. Damit zeigt sein Repertoire, inwieweit die im frühen und mittleren 19. Jahrhundert deutlich ausgeprägte Orientierung des Wiener Unterhaltungstheaters an der Pariser Stückproduktion auch im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert noch Gültigkeit besaß. Girardi erlernte wie sein Vater das Schlosserhandwerk, tat sich jedoch schon als Jugendlicher mit anderen Theaterbegeisterten zu einem Dilettantenverein zusammen und gab nicht lange nach der Gesellenprüfung seinen Lehrberuf auf, um 1869 ein erstes Theaterengagement an den Bühnen von Rohitsch-Sauerbrunn und Krems anzutreten. Nach kurzen Zwischenstationen in Karlsbad und Ischl (1870) folgte in der Spielzeit 1870/71 ein Engagement an das Hoftheater in Salzburg für das Fach der „komischen Rollen“, das Girardi in sämtlichen Genres von der Oper über die Operette, das Vaudeville, das Schauspiel und die Posse bis zum Volksstück zu vertreten hatte (Holzer 1951). Noch vor Ablauf der Saison konnte Girardi einen Vertrag mit Friedrich Strampfer für das Wiener Strampfer-Theater (vormals Vaudeville-Theater) abschließen und war damit in der kurzen Spanne von knapp zwei Jahren aus der Theaterprovinz in die Reichshaupt- und Residenzstadt gelangt. Im Sommer 1874 wechselte er an das Theater an der Wien, an dem er bis 1896 engagiert blieb. Girardis Funktion im Kontext des französisch-österreichischen Transfers von Bühnenstücken fällt wesentlich mit dieser Zeitspanne zusammen. In den Folgejahren ging Girardi nurmehr selten feste Engagements ein und trat an wechselnden Theatern unter anderem in Wien und Berlin auf, darunter am Deutschen Volkstheater (Wien) als Argan in Molières Der eingebildete Kranke (1898), als Godefroid in Alexandre Bissons Der Schlafwagen-Controlor (1899) und in der Titelpartie von Jean Richepins Der Landstreicher (1900).
Der Schwerpunkt von Girardis Beschäftigung mit Stücken, die aus Frankreich an österreichische / Wiener Bühnen übernommen wurden, lag im musikalischen Unterhaltungstheater. Dabei gehörten etwa zwei Drittel der Stücke, in denen Girardi spielte, zu jener Genrefiguration, die man für gewöhnlich unter der Bezeichnung „Operette“ subsumiert; im Original firmierten die betreffenden Stücke etwa als opéra-bouffe, opéra-comique oder opérette, in Wien wurden sie als komische Operette, als Operette oder als Vaudeville angekündigt. Girardis Bühnenlaufbahn bildete über knapp drei Jahrzehnte die Wiener Rezeption der zu dieser Genrefiguration gehörigen französischen Stücke ab: Die 1870er Jahre waren vor allem von einer größeren Auffächerung der zuvor von Jacques Offenbach als Komponisten dominierten Produktion gekennzeichnet, die 1880er und 1890er Jahre von einem zunehmenden Zurücktreten der französischen Operette auf Wiener (und österreichischen) Bühnen, wobei die musikdramaturgische Neuausrichtung der französischen Produktion von tendenziell opernhaften hin zu schlankeren, an der modernen Music Hall orientierten Formen, die sich für diese Jahrzehnte beobachten lässt, auch in den Wiener Spielplänen nachvollzogen werden kann.
Jener Abschnitt von Girardis Laufbahn, in dem in den Wiener Operettenspielplänen französische Stücke noch deutlich vorherrschten, also die 1870er und frühen 1880er Jahre, war davon gekennzeichnet, dass zumal die abendfüllenden französischen Operetten in hohem Maß auf führende Frauenrollen ausgelegt waren, was für Girardis Zeit am Strampfer-Theater bzw. für seine ersten Jahre am Theater an der Wien bedeutete, dass er als Komiker zunächst auf drastische oder groteske Episoden-, Neben- und Chargenrollen abonniert blieb (vgl. u. a. Javotte; Madame Herzog). Verfolgt man seine weitere Karriere, in der ihm immer größere und schließlich Hauptrollen in französischen Stücken – in Operetten wie in Schwänken (comédies-vaudevilles) und Lustspielen (comédies) – zufielen, und nimmt man die von Girardi präsentierten Partien und die Reaktionen auf seine Darstellung näher in den Blick, erweist sich die Kompatibilität von Girardis Stil und Fachausrichtung mit den Erfordernissen und der Spezifik der französischen Bühnenproduktion als entscheidende Frage. Stark vereinfacht gefasst lässt sich formulieren: dem Übergang Girardis ins Charakterfach mit dezidiert volkstümlicher / lokaler Ausrichtung und der Befestigung eines entsprechenden aus Darstellerpersönlichkeit und Rollenprofilen amalgamierten Images („der Girardi“ als spezifisches Fach) stand die Praxis gegenüber, ihn in französischen Stücken vermehrt als Bonvivant zu besetzen. Dieser Widerstreit, der von Zeitgenossen vielfach thematisiert wurde, war Teil einer weit grundsätzlicheren ästhetischen Debatte, nämlich der Debatte über die Übertragbarkeit Pariser Stücke in die Wiener bzw. österreichische Theaterkultur, über Anforderungen an die Übersetzung bzw. Bearbeitung und über die Aufführbarkeit Pariser Stücke in Wien. Ausgehend von der Frage, inwieweit Girardi eine geeignete Besetzung für ein bestimmtes Stück und Fach sei, wurden Pariser und Wiener Spielpraktiken, Publikumserwartungen und das, was als nationale bzw. lokale Eigenheiten von Theatertexten aufgefasst wurde, vergleichend diskutiert.
Girardis Position zwischen Charakterfach und Bonvivant lässt sich beispielhaft an zwei Operetten französischer Komponisten nachvollziehen, die mit Girardi in der jeweiligen männlichen Hauptpartie in Wien ausgesprochen erfolgreich waren. Dabei handelt es sich um Robert Planquettes Rip Rip und um Hervés Mam’zelle Nitouche. Beide Stücke sind Teil relativ komplexer Prozesse des Transfers im europäischen Theater und eignen sich daher in besonderem Maß für eine Rekapitulation solcher Prozesse. 1882 wurde am Londoner Comedy Theatre Planquettes opéra-comique Rip Van Winkle uraufgeführt, eine Adaption von Dion Boucicaults Washington-Irving-Dramatisierung Rip Van Winkle; or, The Sleep of Twenty Years (1865). Das Libretto des Stücks hatten Henri Meilhac und Philippe Gille verfasst, für die englische Version zeichnete – wie einige Jahre zuvor schon für die Übersetzung von Planquettes Les Cloches de Corneville – Henry Brougham Farnie verantwortlich. Bereits 1883 und damit noch vor der Pariser Erstaufführung kam eine deutschsprachige Rip-Version von Ferdinand Gumbert und Eduard Jacobson in Wien heraus. Girardi hatte hier, anders als in den meisten seiner früheren Partien in französischen Stücken, die Gelegenheit, eine vielschichtige Charakterrolle zu gestalten. Der liebenswerte, aber nicht sehr arbeitsame Rip, der in einem Dorf am Hudson River lebt, erhofft sich eine glänzende Zukunft für sich und seine Familie durch die Hebung des legendenumwobenen Schatzes des Kapitän Hudson. Die Geister Hudsons und seiner Seeleute versetzen Rip zur Strafe für dieses Vorhaben in einer nächtlichen Gespensterszene in einen 20-jährigen Schlaf. (Bezugnahmen auf Carl Maria von Webers Der Freischütz und Richard Wagners Der fliegende Holländer drängen sich auf.) Als Rip erwacht und in den Ort zurückkehrt, der mittlerweile (1783) zu einer Stadt angewachsen ist, erkennt ihn niemand mehr, man hält ihn für einen Narren und verspottet ihn. Seine Frau ist längst gestorben, die kleine Tochter erwachsen. Rip kann die Menschen im Ort schließlich von seiner Identität überzeugen und alte Feindschaften ausräumen. Durch den Schatz, den er mit sich führt, winkt seiner Tochter und deren Bräutigam eine sorglose Zukunft. Girardi evozierte mit der Darstellung des Rip jene Mischung aus Heiterkeit, Ernst und Rührung, die zumal in späteren Jahren als spezifisch für die Wirkung seiner Bühnenkunst begriffen wurde. Bemerkenswert ist, dass in Wien in Zusammenhang mit der Aufführung dieser französischen Operette der Name jenes Dramatikers fiel, der im späten 19. Jahrhundert zum „Wiener Volksdichter“ schlechthin stilisiert wurde, nämlich derjenige Ferdinand Raimunds[2]. Die Presse schrieb über Rip Rip: „das [...] trefflich aufgebaute, gut fundirte Buch ist nicht[s] Anderes, als ein mit komischen Elementen und Musik versetztes Märchen, welches in mehr als einem Punkte an Raimund’sche Bühnendichtungen gemahnt.[3]“
Eine zweite beim Wiener Publikum äußerst erfolgreiche französische Operette, in der Girardi eine Hauptrolle spielte, Hervés Mam’zelle Nitouche, zeigt, wie Sujets unter Umständen mehrfach den Weg von Frankreich an die Wiener Theater nahmen. 1848 kam am Pariser Théâtre de l’Opéra-Comique Henri Potiers Il Signor Pascarello (Libretto: Léon-Lévy Brunswick und Adolphe de Leuven) heraus, eine Geschichte um die Abenteuer einer jungen Dame und eines Musikers zwischen Kloster und Theater. 1886 brachte das Theater an der Wien F. Zells Comödie mit Gesang Die Novize mit Musik von Wilhelm Rab heraus, eine Adaption von Potiers opéra-comique, in der Girardi den alten Kapellmeister Severin Holberg, die Entsprechung zu Pascarello, gab. Pascarello bzw. Holberg sind Patenonkel bzw. Ziehvater des jungen Musikers, den es zum Theater zieht, wohin ihm die Klosterschülerin folgt. Drei Jahre zuvor, 1883, war in Paris am Théâtre des Variétés die comédie-vaudeville Mam’zelle Nitouche (Text: Meilhac und Albert Millaud) mit einem modernisierten, in der Grundidee jedoch weithin dem Signor Pascarello verpflichteten Plot uraufgeführt worden. Anna Judic, die führende Diva des Théâtre des Variétés, auf die Mam’zelle Nitouche ausgelegt war, gastierte damit im Frühjahr 1889 am Wiener Carltheater – und nur ein Jahr später gab auch das Theater an der Wien Mam’zelle Nitouche, übersetzt von Richard Genée, mit Girardi diesmal in der Rolle des jungen Musikers, der im Kloster als Organist und Musiklehrer für die Stiftsfräulein wirkt, dabei aber eine Karriere als Operettenkomponist anstrebt. War er in der Rolle des Holberg für die Wahrheit und das Ergreifende seiner Darstellung gelobt worden, die an seine Interpretation des „Valentin“ in Raimunds Der Verschwender anknüpfte, forderte sein Auftreten als Célestin zu Vergleichen mit der Interpretation der Partie durch den französischen Schauspieler Baron heraus; vor allem war Célestin aber eine wichtige Station von Girardis Beschäftigung mit dem Fach des Bonvivant, die von Zeitgenossen wiederholt kontrovers diskutiert wurde. Girardis Auftreten etwa in Victorien Sardous und Émile de Najacs Cyprienne (Divorçons!), in Bissons und Antony Mars’ O, diese Schwiegermutter! (Les Surprises du divorce), in Paul Ferriers und Jules Prévels Musketiere im Damenstifte (Les Mousquetaires au couvent, Musik: Louis Varney), in Alfred Hennequins und Millauds Lili (Musik: Hervé), in Meilhacs Decorirt (Décoré) oder Bissons Der Schlafwagen-Controlor (Le Contrôleur des wagons-lits) war jeweils Anlass für Auseinandersetzungen über den „Girardi-Stil“ und das französische Fach. Eine eingehende Analyse der aus Wiener / österreichischer Perspektive typischen Eigenschaften des französischen Theaters im späten 19. Jahrhundert – wie etwa das extrem hohe dramatische Tempo und die Tendenz zum ‚Frivolen‘, wenn nicht gar ‚Unmoralischen‘, die die betreffenden Stücke für Wien und die dort gepflegte darstellerische Praxis mehr oder weniger ‚unbrauchbar‘ erscheinen ließen –, eine Analyse also der Möglichkeiten und Grenzen des kulturellen Transfers, könnte daher von Alexander Girardi ihren Ausgang nehmen.
Quellen und externe Links
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Alfred_Kerr
- ↑ Linhardt 2006
- ↑ Die Presse, 23.12.1883, S. 19
Bibliografie
- Bahr, Hermann: Girardi. In: Ders.: Austriaca. Berlin: S. Fischer 1911, S. 192–201.
- Holzer, Rudolf: Die Wiener Vorstadtbühnen. Alexander Girardi und das Theater an der Wien. Wien, München: Österreichische Staatsdruckerei 1951.
- Kraus, Karl: Girardi. In: Die Fackel 246–247 (12. März 1908), S. 38–44.
- Linhardt, Marion: Ein ,neuer‘ Raimund?! Alexander Girardis Rolle für die Alt-Wien-Rezeption um 1900. In: Nestroyana 26 (2006), S. 165–184.
Autor
Marion Linhardt
Onlinestellung: 19/01/2025