Claude Porcell

Der Germanist und Übersetzer Claude Porcell (1946–2008) war ein bedeutender Vermittler der zeitgenössischen österreichischen Literatur in Frankreich, insbesondere als Übersetzer der meisten Theaterstücke von Thomas Bernhard.
Biografie
Claude Porcell stammt aus dem südfranzösischen Béziers und kam nach Paris, wo er das Lycée Louis-le-Grand besuchte, um sich auf die École Normale Supérieure vorzubereiten, die er 1967 absolvierte. Nachdem er 1971 die Agrégation d’allemand abgelegt hatte, wurde er 1972 Assistent am Institut d’Études germaniques an der Universität Paris-Sorbonne. Seine Doktorarbeit (1977) (thèse de troisième cycle) befasst sich mit den „Selbstübersetzungen“ und den französischen Texten Heines. Claude Porcell, in der Folge Dozent für Germanistik, war in erster Linie ein herausragender Übersetzer von meist zeitgenössischen deutschsprachigen Autoren. Seine Arbeit als Übersetzer wurde mit mehreren Preisen gewürdigt. So erhielt er 1996 den Prix Halpérine-Kaminsky für seine Übersetzungen von Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (Rainer Maria Rilke) und Ein Fest für Boris (Thomas Bernhard), 2002 den Prix Gérard de Nerval für Familiengeschichten (Michael Krüger) und 2003 den Prix lémanique de la traduction, mit dem herausragende literarische Übersetzungen aus dem Deutschen ins Französische und aus dem Französischen ins Deutsche ausgezeichnet werden sollten. Die Romane Schlafes Bruder von Robert Schneider und Himmelfarb von Michael Krüger, die in Frankreich in seiner Übersetzung veröffentlicht wurden, erhielten 1994 bzw. 1996 den Prix Médicis étranger.
Eine Arbeit zwischen Licht und Schatten
Als Lehrender und Forscher, zunächst als Assistent und später als Maître de Conférences, absolvierte Claude Porcell seine gesamte universitäre Laufbahn an der Germanistik der Sorbonne (Paris IV) und hielt dort Vorlesungen über deutschsprachige Literatur und lehrte Übersetzungspraxis (nicht Übersetzungswissenschaft): Man könnte sagen, dass er auf diese Weise vielen Germanistikstudentinnen und -studenten in Frankreich Einsichten vermittelt bzw. „Lichter“ gebracht hat.
Für den anderen Teil seiner Tätigkeit trat Claude Porcell in den Schatten der großen deutschsprachigen Schriftsteller, um ihre Werke ins Französische zu übertragen. Seine Vorliebe für literarische Übersetzungen wurde vielleicht bereits in den Jahren seiner Ausbildung an der ENS geweckt, wo er dem Unterricht des österreichischen Dichters und Übersetzers Paul Celan, des französischen Beckett-Übersetzers Elmar Tophoven und von Bernard Lortholary,[1] einem der Übersetzer der Prosa von Thomas Bernhard und Kollege und Freund an der Sorbonne, folgen konnte.
Die Liste der von ihm übersetzten Werke ist beeindruckend und macht Claude Porcell zu einem sehr wichtigen Vermittler zwischen der deutschsprachigen – insbesondere der österreichischen – und der französischen Kultur: Die 2003 anlässlich des Genfersee-Preises (Prix lémanique de la traduction) erstellte Liste, die zwischen 2003 und 2008 um etwa 10 Übersetzungen ergänzt werden muss, enthält 26 Übersetzungen von österreichischen Autoren, 33 Übersetzungen von deutschen Autoren, 2 aus der Schweiz und 1 aus Dänemark und zeigt proportional ein deutliches Übergewicht der österreichischen Literatur.
Claude Porcells erste Übersetzung war die einer Textsammlung von Kurt Tucholsky, nachdem er zuvor an der französischen Ausgabe des Briefwechsels zwischen Marx und Engels mitgearbeitet hatte (als „Subunternehmer“, wie er schrieb). Danach beteiligte er sich an dem Band der Bibliothèque de la Pléiade, der den Prosawerken Rilkes gewidmet ist, und übersetzte dessen Briefe an einen jungen Dichter, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und Zwei Prager Geschichten neu. Später konzentrierte er sich auf zeitgenössische Autoren – keine einzige Autorin! –, wobei der Text des Prager Schriftstellerarztes Ernst Weiß, der mit Kafka und Zweig befreundet war, Der Verführer (1991), der 1937 auf Deutsch erschien, die Ausnahme von der Regel darstellt. Claude Porcell trug dazu bei, Autoren wie Robert Schneider, Michael Krüger und Peter Härtling in Frankreich einzuführen, und übersetzte bereits renommierte Schriftsteller wie Peter Handke und Günter Grass: zwei Romane von Peter Handke (Die Wiederholung, Mein Jahr in der Niemandsbucht); vor seinem Tod im Jahr 2008 übersetzte Claude Porcell mehrere wichtige Texte von Günter Grass: Ein weites Feld (frz. Toute une histoire, 1997) in Zusammenarbeit mit Bernard Lortholary, Mein Jahrhundert (frz. Mon siècle, 1999), Im Krebsgang (frz. En crabe, 2002), Beim Häuten der Zwiebel (frz. Pelures d’oignon, 2007), eine Neuübersetzung des Romans Die Blechtrommel (frz. Le Tambour, 2009).
Claude Porcells Interesse für das Theater führte dazu, dass er seit Ende der 1970er Jahre seine Tätigkeit als Übersetzer – neben Botho Strauß – vor allem auf Thomas Bernhard konzentrierte, für den er zu einem der ersten großen französischen Spezialisten wurde. Sein besonderes Augenmerk galt dem dramatischen Werk Bernhards, das er zusammen mit Michel-François Demet für Frankreich entdeckt hatte und von dem er etwa fünfzehn Stücke übersetzte und so mit seinem Übersetzungsstil die Rezeption des Bernhard’schen Theaters im frankophonen Raum prägte. Nur vier der zwanzig Stücke wurden von anderen Übersetzern übersetzt: Der Ignorant und der Wahnsinnige, übersetzt von Michel-François Demet,[2] Der Schein trügt (Edith Darnaud[3]), Der Weltverbesserer (Michel Nebenzahl[4]), Der Theatermacher (Edith Darnaud). Als Regisseure in Frankreich Prosatexte von Thomas Bernhard für die Bühne zu adaptieren begannen, arbeitete Claude Porcell an Bühnenadaptionen z. B. von Der Untergeher und den Interviews mit Krista Fleischmann mit.
Die Bedeutung von Thomas Bernhard für Claude Porcell zeigt sich unter anderem in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Prix lémanique de la traduction im Jahr 2003, als er seine Antwort mit einem Pastiche der dramatischen Schreibweise „seines Autors“ einleitete:
Sehr geehrter Herr, |
oder die Kirsche |
Dennoch ist diese Identifikation mit den Autoren nur vorübergehend – für die Dauer einer Übersetzung: Denn auch wenn Claude Porcell die Übersetzungstätigkeit als Handwerk versteht, sieht er sich auch als Künstler-Schauspieler, da er für die Dauer der Übertragung eines Werkes in eine Rolle schlüpft, indem er eine Stimme mit ihrem Rhythmus, ihrer besonderen Musik nachahmt und die Stimme von einem Werk zum anderen wechselt: „Wenn der Schöpfer eines Werks selbst nur ein Imitator ist (das ist im Grunde die These unseres guten alten Klassik), wird der Übersetzer zum Imitator des Imitators. Mehr Bernhard’sches ist nicht möglich“, sagte er in derselben Rede. Und natürlich verdanken wir die französische Übersetzung von Der Stimmenimitator Claude Porcell, der weitere Prosatexte, Reden und Interviews von Bernhard übersetzt hat: Der Italiener, Kulterer, Die Billigesser, Goethe schtirbt, In der Höhe, und Interviews (die Gespräche mit André Müller und Krista Fleischmann), sowie die Monografie Thomas Bernhard, ein Leben von Hans Höller, ein Standardwerk der Bernhard’schen Literaturkritik.
Claude Porcell war einer der französischen Germanisten der ersten Stunde, der als Literaturwissenschaftler die Aufmerksamkeit auf das Werk Thomas Bernhards lenkte. So veröffentlichte er bereits 1986 eines der ersten wissenschaftlichen Bücher über den österreichischen Schriftsteller in Frankreich mit dem Titel Thomas Bernhard. Ténèbres, das einige von ihm übersetzte Texte des Autors enthielt. Er war auch an der Herausgabe des Sammelbandes Kontinent Bernhard beteiligt, der sich mit der Rezeption von Thomas Bernhard in Europa befasst. Und Claude Porcell war Koordinator zweier Kolloquien in Paris, die vom Institut d’Études germaniques der Universität Paris IV und dem Österreichischen Kulturinstitut organisiert wurden: „Rencontre Thomas Bernhard“ im Mai 1982 und „Thomas Bernhard et le public“ im November 1991, bei dem er eine Podiumsdiskussion leitete, die die Frage diskutierte: „Ist es möglich, Bernhard zu übersetzen?“. Darüber hinaus hat Claude Porcell das Werk von Thomas Bernhard durch populärwissenschaftliche Texte in der Encyclopaedia Universalis und in der Fachpresse (Théâtre/Public) und der allgemeinen Presse bekannt gemacht.
Vor allem seine Übersetzungen werden weiterhin die zeitgenössische Literatur aus den deutschsprachigen Ländern, insbesondere aus Österreich, in Frankreich verbreiten. Claude Porcell, ein leidenschaftlicher Vermittler, war sich der Grenzen der Übersetzung literarischer Werke bewusst und betrachtete sie als notwendiges Übel, trotz der mehr als abschätzigen Äußerungen Thomas Bernhards in den Gesprächen mit Krista Fleischmann (1993) auf die Frage, ob es ihm eine gewisse Befriedigung verschaffe, seine Bücher übersetzt zu sehen: „Nein, absolut nicht. Es ist ja ganz lustig, aber es hat ja mit dem, was man schreibt, nichts zu tun, weil das ist ja dann das Buch von dem, der es übersetzt hat. Der geht ja seinen eigenen Weg, und der setzt sich immer durch. Ist nicht wiederzuerkennen. Ein übersetztes Buch ist wie eine Leiche, die von einem Auto bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt worden ist. Können’S dann die Trümmer zusammensuchen, aber es nützt nichts mehr. Übersetzer sind ja was Furchtbares“.
Quellen und externe Links
Bibliografie
- Vgl. die Liste der Übersetzungen bis 2003 in der folgenden Publikation:
https://wp.unil.ch/prixlemanique/files/2015/07/PrixLemanique_allocutions2003.pdf - Internetseiten der Verlage Arche und Gallimard:
https://www.gallimard.fr/catalogue?f%5B0%5D=auteur%3A22880
https://www.arche-editeur.com/rechercher?q=Thomas+Bernhard&search=all - Thomas Bernhard. Ténèbres. Paris: Maurice Nadeau 1986.
Einleitung von Claude Porcell und Erstübersetzung von folgenden Bernhard-Texten: Le froid augmente avec la clarté (1965: Die Wahrheit nimmt mit der Kälte zu), À la recherche de la vérité et de la mort (1967), zwei Reden (Der Wahrheit und dem Tod auf der Spur), L’Immortalité est impossible. Paysages d’enfance (1968), N’en finir jamais ni de rien (1970) und André Müller, entretien avec Thomas Bernhard (1979); Trois jours (übersetzt von Jean De Meur).
Wissenschaftliche Beiträge: Dieter Hornig, „De l’inconvénient d’être né: l’autobiographie de Thomas Bernhard“; Jean-Louis de Rambures, „Romans et récits: la perturbation des genres“; Claude Porcell, „Théâtre: la scène obscure“; Dieter Hornig, „La dixième identité. Quelques remarques sur les conditions de la production littéraire en Autriche“; Erika Tunner, „Une autre lecture. Perturbation: une bouffonnerie brutale“; Michel-François Demet, „Les frères ennemis: Thomas Bernhard et Novalis“; Jean-Yves Lartichaux, „Thomas Bernhard est-il pessimiste?“. - Wolfram Bayer, Claude Porcell (Hrsg.): Kontinent Bernhard. Zur Thomas Bernhard Rezeption in Europa. Wien: Böhlau 1995.
Autor
Ute Weinmann
Onlinestellung: 15/05/2025