François Villon
Villon, François (1431?–1463?) - Österreichische Kulturschaffende haben zur Rezeption des spätmittelalterlichen französischen Dichters François Villon, der im 20. Jahrhundert zum Prototyp des ‚poète maudit‘ stilisiert wurde, verschiedene relevante Beiträge geleistet.
Rezeptions Villon
Das schmale Œuvre Villons besteht aus dem Lais (in deutschen Übersetzungen meist als Kleines Testament bezeichnet), dem Testament (im Deutschen in der Regel Großes Testament genannt), einer Reihe von Einzelgedichten (in der maßgeblichen französischen Edition von Jean Rychner und Albert Henry unter dem Titel Poèmes Variés zusammengefasst) und bis heute nicht endgültig entschlüsselten Ballades en jargon, d.h. in Gaunersprache verfassten Gedichten.
Bis Mitte des 16. Jahrhunderts in seiner Heimat populär und anekdotenumrankt, danach sehr schnell in Vergessenheit geraten und erst im Lauf des 19. Jahrhunderts langsam wiederentdeckt[1], tauchte sein Name im deutschen Sprachraum vor 1900 nur ganz vereinzelt und primär in akademischen Kontexten auf. Breitere Bekanntheit erlangten seine Texte erst durch die – u.a. von der Edition (1903) des Wiener Romanisten Wolfgang von Wurzbach (1879–1957) angeregte – Übersetzung des k.u.k. Leutnants K.L. Ammer (1879–1959), die 1907 erstmals publiziert und seither von verschiedenen Verlagen sowie in unterschiedlichsten Ausstattungen aufgelegt wurde. Sie wurde vor allem dadurch berühmt, dass Bert Brecht ihr zahlreiche Verse für seine Dreigroschenoper entlieh und damit einen Plagiatsskandal auslöste.
Nahezu alle weiteren Rezeptionsdokumente österreichischer Provenienz verstehen sich (auch) als Korrektiv zur immens erfolgreichen, aber den Geist der Villon’schen Verse völlig verfehlenden Nachdichtung und der sie begleitenden, frei erfundenen Lebensgeschichte Villons, die der deutsche Expressionist Paul Zech 1931 auf den Markt brachte.
Wolfgang Benndorf[2] (1901–1959) veröffentlichte 1937 unter dem Pseudonym Peter Welf eine Übersetzung des Testament in einer bescheidenen Auflage im Wiener Kleinverlag Sussmann. Als Gegner des Nationalsozialismus war Benndorf alsbald mit Schreib- und Berufsverbot belegt. 1945 kehrte er an die Grazer Universitätsbibliothek als ihr Leiter zurück und konnte 1949 eine Neuauflage seiner Villon-Übersetzung in der Wiener Amandus-Edition organisieren. Diese Ausgabe war mit 17 Zeichnungen von Hans Fronius[3] ausgestattet; trotz dieser künstlerischen Aufwertung war ihr aber kein kommerzieller Erfolg beschieden.
Die sprachlich blasse Übersetzung und die im Vergleich zur Nachdichtung Zechs im Ton zwar weniger kraftmeierische, im Umgang mit ungesicherten Fakten aber ähnlich großzügige Lebenserzählung, die Nora Urban 1966 in einem Klagenfurter Verlag herausbrachte, blieb weitgehend unbeachtet und wurde nur in das Programm eines Buchklubs aufgenommen. Do ch auch Fritz Habeck[4] (1916–1997), der sich zeitlebens mit Villon beschäftigte, schon 1941 den Villon-Roman Der Scholar vom linken Galgen und 1950 das Theaterstück Der Floh und die Jungfrau mit Villon als Protagonisten und Gegenentwurf zur patriotisch-heroischen Jeanne d’Arc verfasst hatte, schrieb mit dem (sehr zeitnah auch ins Französische übersetzten) Sachbuch Villon oder die Legende eines Rebellen (1969), in das eine fast vollständige, so präzise wie möglich kontextualisierte Prosa-Übersetzung der Verse Villons integriert ist, vergeblich gegen das von Zech propagierte und Ende der revolutionär gesinnten 1960er Jahre erneut besonders attraktive Villon-Bild an. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass viele Texte Villons nicht autobiographisch, sondern als Rollenlyrik zu lesen sind, trifft Habeck das aus den Texten herausdestillierbare Persönlichkeitsprofil sicher besser als Zech mit seinen Phantasien von einem kompromisslos anarchischen Charakter: „Was ihn [Villon] in seiner Zeit auszeichnete, war ein nahezu vollkommener Mangel an Haltung […]. Er hatte kein soziales Gewissen, er kannte keine Moral, er war ohne Scham feig, hatte nie etwas von Verantwortung gehört, zeigte offen seine Todesangst […][5].
Aus österreichischer Sicht einen Meilenstein der Villon-Rezeption stellt die im November 1965 produzierte Schallplatte dar, auf der der populäre Schauspieler Helmut Qualtinger (1928–1986) von H.C. Artmann (1921–2000) in Wiener Vorstadtdialekt übersetzte Texte Villons rezitierte und dabei musikalisch von dem prominenten Jazzmusiker Fatty George (1927–1982) begleitet wurde. Die Version Artmanns, die (entgegen der in der deutschen Fachliteratur verbreiteten Information) keine freie Nachdichtung, sondern eine semantisch außerordentlich texttreue Übersetzung ist, wurde auch gedruckt (mit einer Übersetzung ins Standarddeutsche von Friedrich Polakovics) in verschiedenen Ausgaben in Umlauf gebracht, erzielte aber naturgemäß aufgrund der schweren Lesbarkeit der Verschriftung Artmanns nicht den Kultstatus der Schallplatte bzw. ab 1989 der CD.
Weder schriftlich noch filmisch dokumentiert ist das Villon gewidmete Programm Genie und Galgenstrick, das der Solo-Schauspieler Herbert Lederer (1926–2021) in seinem Theater am Schwedenplatz in Wien und in zahlreichen Gastspielen acht Jahre lang (1965–1973) im Repertoire hatte. In seinem „Arbeitsbericht“ beschrieb er genau, wie er die Figur angelegt hatte: „Mein Villon stand vor dem Ende, vor dem Verschwinden in der eisigen Winternacht[6]“, der seine in Versen festgehaltene Existenz aus der Retrospektive, „weniger zornig als verbittert[7]“ kommentiert. 22 Gedichte, die Lederer selbst übersetzt hatte, wurden durch narrative Passagen zusammengehalten.
Der vorläufig letzte größere österreichische Beitrag zur Geschichte der Verdeutschungen von Texten Villons stammt von dem Schauspieler Ernst Stankovski (1928–2022), der das Testament für eigene künstlerische Zwecke übersetzt hat. Ab Jänner 1982 rezitierte und sang er seine Version; insgesamt vierzehn Balladen und Rondeaus hat er vertont. Im Vorwort zur gedruckten Ausgabe lieferte Stankovski eine Begründung für seinen übersetzerischen Zugriff: „Die vorliegende Übertragung ist von einem Schauspieler verfaßt. […] Eine flüssige, gut lesbare und klare Diktion war das Ziel[8]“. Hervorragend nachgebildet hat Stankovski die Bauform der Strophen, die in der Regel mit einer Pointe enden und deren Platzierung er immer besondere Beachtung geschenkt hat.
Mit der philologisch kompetenten und sprachlich einfühlsamen, zweisprachigen Edition von Kleinem und Großem Testament (1988) des deutschen Romanisten Frank-Rutger Hausmann (*1943) hat die Übersetzungsgeschichte Villons im deutschsprachigen Raum vorerst ihren Abschluss gefunden. Der Name Villon taucht in literarischen Kontexten nur mehr vereinzelt auf. Die Boulevard Villon (2013) betitelte CD des Salzburger Kabarettisten, Autors und Liedermachers Peter Blaikner (*1954) enthält Vertonungen von übersetzten Texten mehrerer Dichter (Wilhelm von Aquitanien, Georges Brassens, H.C. Artmann, eigene Lieder), Villon ist nur mit zwei Nummern vertreten.
Das Mittelalter, im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eine Epoche, von der eine bemerkenswerte Faszination ausging (akademisches Stichwort: Mittelalter-Rezeption), ist mittlerweile wieder zu einem Forschungsgebiet für spezialisierte Wissenschaftler*innen geschrumpft. Für jüngere Generationen scheint Villon keine Identifikationsfigur mehr zu sein.
Quellen und externe Links
- ↑ cf. Dufournet 1970
- ↑ https://portal.dnb.de/opac.htm?method=simpleSearch&cqlMode=true&query=nid%3D123634385
- ↑ https://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb119036785
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Fritz_Habeck
- ↑ Habeck 1969, S. 306–307
- ↑ Lederer 1984, S. 122
- ↑ ebd.
- ↑ Stankovski 1981, S. 15
Bibliografie
Französische Werkausgaben
- Villon, François: Die Werke Maistre François Villons. Hg. von Wolfgang von Wurzbach. Erlangen: Junge 1903, 186 S.
- Villon, François: Le Testament Villon. 2 Bände: Texte (I) et Commentaire (II). Hg. von Jean Rychner und Albert Henry. Genf: Droz 1974, 155 / 305 S.
- Villon, François: Le Lais Villon et les Poèmes Variés. 2 Bände: Texte (I) et Commentaire (II). Hg. von Jean Rychner und Albert Henry. Genf: Droz 1977, 79 / 153 S.
Übersetzungen
- Ammer, K.L. = François Villon: Werke. Leipzig: Zeitler 1907, 116 S.
- Artmann, Hans Carl = Villon-Baladn. In Wiener Mundart übertragen. Frankfurt am Main: Insel 1968, 89 S.
- Hausmann, Frank-Rutger = François Villon: Das Kleine und das Große Testament. Französisch – Deutsch. Stuttgart: Reclam (= UB 8518) 1988, 336 S.
- Stankovski, Ernst = François Villon: Das große Testament. Übertragung mit Vertonungen von vierzehn Balladen mit Gitarre und sieben Holzschnitten aus einem mittelalterlichen Totentanz. München / Wien: Langen-Müller 1981, 239 S.
- Urban, Nora = François Villon: Leben und Werk. Erzählung und Übersetzung. Klagenfurt: Eduard Kaiser o.J. [1966], 182 S.
- Welf, Peter (= Wolfgang Benndorf) = François Villon: Das große Testament. Wien: Sussmann 1937, 126 S. Neuauflage: Deutsche Übertragung von Wolfgang Benndorf (= Peter Welf). Mit 17 Zeichnungen von Hans Fronius. Wien: Amandus-Edition 1949, 128 S.
- Zech, Paul = Die Balladen und lasterhaften Lieder des Herrn François Villon in deutscher Nachdichtung. Weimar: Liechtenstein 1931, 152 S.
Diskographie
- Blaikner, Peter: Boulevard Villon. Tukan Rekords 2013.
- Villon, François = Helmut Qualtinger spricht François Villon. Übertragen in den Wiener Dialekt von H.C. Artmann. Historisierende Vorspiele von Ernst Kölz & Jazz von Fatty George. Preiserrecords 1989.
- Villon, François = Ernst Stankovski: Das große Testament des François Villon. kip records: Dinslaken 2000.
Belletristische Rezeption
- Habeck, Fritz: Der Scholar vom linken Galgen. Wien: Zsolnay 1941, 371 S.
- Habeck, Fritz: Der Floh und die Jungfrau. München / Wien: Theaterverlag Sessler 1950, 100 S.
Fach- und Sachliteratur
- Dufournet, Jean: Villon et sa fortune littéraire. Saint-Médard-en-Jalles: Ducros 1970, 168 S.
- Habeck, Fritz: Villon oder Die Legende eines Rebellen. Wien / München / Zürich: Molden 1969, 333 S. Französische Übersetzung: Villon ou la légende d’un rebelle. Traduit de l’allemand par Élisabeth Gaspar. Paris: Mercure de France 1970, 319 S.
- Pöckl, Wolfgang: Formen produktiver Rezeption François Villons im deutschen Sprachraum. Stuttgart: Akademischer Verlag Hans-Dieter Heinz 1990, 416 S.
Autor
Wolfgang Pöckl
Onlinstellung: 05/06/2024