K.L. Ammer

Aus decaf-de
Porträtfotografie Karl Klammer

Klammer, Karl Lothar (*13. Oktober 1879 in Wien, † 08. März 1959 in Wien) hat der deutschsprachigen Leserschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem leicht zu entschlüsselnden Pseudonym K.L. Ammer die französischen Dichter François Villon und Arthur Rimbaud mit wirkungsmächtigen Übersetzungen zugänglich gemacht.

Biografie

Karl Klammer entstammte einer dem Wiener Bildungsbürgertum zuzurechnenden Familie, in der künstlerische Begabungen und militärische Karrieren bis ins 18. Jahrhundert zurückzuverfolgen sind. In seiner Biographie vereinigen sich diese beiden Traditionen. Schon als Schüler des Maximilians-Gymnasiums (heute Gymnasium Wasagasse) korrespondierte Klammer mit den prominentesten deutschen Lyrikern. Unter den seinen Briefen beigeschlossenen Proben seines Könnens fanden Übersetzungen französischer Gedichte deutlich mehr Anerkennung als eigene dichterische Versuche. Einflussreiche Persönlichkeiten des Literaturbetriebs eröffneten dem jungen Talent die Möglichkeit, übersetzte Gedichte zu veröffentlichen. Da Gymnasiasten publizistische Tätigkeit untersagt war, musste sich Klammer ein Pseudonym zulegen, das er beibehielt, als er nach der Matura die Theresianische Militärakademie in Wiener Neustadt besuchte, denn auch als Angehöriger der Armee hätte er die Veröffentlichung seiner Übersetzungen von Vorgesetzten genehmigen lassen müssen, wenn sie unter seinem bürgerlichen Namen erschienen wären. Eigenem Bekunden nach zu schließen konnte Klammer während seiner Stationierung in einer ostgalizischen Garnison, wo die wichtigsten Übersetzungen entstanden sind, seine militärischen Pflichten und seine musischen Neigungen ohne Konflikte in Einklang bringen.

Obwohl er nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Heeresdienst ausschied, um eine bürgerliche Berufslaufbahn im Verlag (bzw. der späteren Kartographischen Anstalt) Freytag & Berndt einzuschlagen, blieb er der Armee der Monarchie verbunden und betitelte seinen einzigen autobiographischen Text noch in fortgeschrittenem Alter trotzig anachronistisch mit „Erinnerungen von k.u.k. Oberstleutnant Karl Klammer[1]“. Der Großteil der Übersetzungen Klammers erschien innerhalb eines sehr begrenzten Zeitraums. Einzelne Gedichte französischer und belgischer Dichter wurden ab 1899 in zumeist sehr kurzlebigen Literaturzeitschriften (Die Insel, Pan, Der Amethyst, Opale) abgedruckt. 1906 kam bei Diederichs in Jena ein Band mit Gedichten von Maurice Maeterlinck heraus; die von Klammer beigesteuerten Versionen wurden von dem erfahrenen Übersetzer Friedrich von Oppeln-Bronikowski gutgeheißen oder nachbearbeitet. 1907 war Klammers annus mirabilis: Der Insel-Verlag brachte die Rimbaud-Übersetzung, Zeitler den deutschen Villon heraus. Eine späte Ernte verstreuter Übersetzungen von französischen Gedichten aus vier Jahrhunderten wurde 1957 in Form einer Anthologie eingebracht. Unmittelbar nach der Publikation der beiden Gedichtbände, die sein Ansehen als Übersetzer begründeten, zog sich Klammer aus dem Literaturbetrieb zurück. Sein Rimbaud-Band wurde jedoch noch Jahrzehnte als bedeutendes literarisches Ereignis wahrgenommen (und immer wieder, zuletzt 1995, aufgelegt). Angesehene Komparatisten wie Kurt Wais[2] sahen in ihm den Wegbereiter u.a. für Georg Heym oder Georg Trakl; Reinhold Grimm[3] bezeichnete Klammer als „eine[n] der wenigen großen Anreger und Vermittler großen Dichtungsgutes, die wir besitzen“. Als besonderes Verdienst wurde die Berücksichtigung der Prosagedichte betont[4]. Auch wenn Klammer der vollkommen neuen Poetik Rimbauds, die Laut und Klang gegenüber dem Inhalt privilegiert, nicht immer voll gerecht wurde, so ist doch anzuerkennen, dass er diese Intention erkannt und – wenn auch weniger radikal als die Vorlage – umzusetzen versucht habe[5].

Das Bemühen, die Leser*innen behutsam an die Texte heranzuführen, ist auch in der Villon-Übersetzung zu erkennen. Während die relativ eigenständigen (wenn auch zum Teil in das Große Testament integrierten) Gedichte Villons über allgemein-menschliche Themen wie Liebe, Tod, Lebensführung und Altern vor allem formale Disziplin des Übersetzers erfordern, verlangen die zahlreichen lokalsatirischen Anspielungen der Texte Geschick und Einfallsreichtum, um die Strophen wie im Original in eine Pointe münden zu lassen. Dabei hat sich Klammer als Pionier profiliert. Seine Übersetzung war über die Jahre stets und ist nach wie vor bei mehreren Verlagen im Programm.

Über den Kreis von Lyrik-Interessent*innen hinaus wurde dem Namen Ammer Ende der 1920er Jahre dank eines Plagiatsskandals viel öffentliche Aufmerksamkeit zuteil. Der renommierte deutsche Theaterkritiker Alfred Kerr deckte auf, dass sich Bertolt Brecht für die Gesangseinlagen seiner Dreigroschenoper großzügig in Ammers Villon-Übersetzung bedient hatte, ohne in der Druckfassung diese als Quelle anzugeben, und entfachte damit eine Grundsatzdebatte über geistiges Eigentum, die in der Kulturszene eine länger anhaltende Polemik auslöste[6].

Aus literaturwissenschaftlichen Fachpublikationen ist sein Name im Lauf des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts weitgehend verschwunden. Das Anfang des 21. Jahrhunderts erwachte Interesse der Übersetzungswissenschaft an den Akteur*innen des Übersetzungsbetriebs könnte Klammers Verdienste wieder nachdrücklicher in Erinnerung bringen.

Quellen und externe Links

  1. Klammer 1956
  2. cf. 1958, S. 328
  3. 1963, S. 144
  4. cf. Gsteiger 1971, S. 215
  5. cf. Faber-Bellion 1981, S. 123
  6. Einzelheiten in Pöckl 1990, S. 368–370

Bibliografie

Übersetzungen

  • Klammer, Karl: Aus französischer Lyrik. Übersetzungen von Karl Klammer. Wien: Holzhausen 1957, 150 S.
  • Rimbaud, Arthur: Leben und Dichtung. Übertragen von K.L. Ammer. Eingeleitet von Stefan Zweig. Leipzig: Insel 1907, 243 S.
  • Rimbaud, Arthur: Gedichte. Aus dem Französischen übersetzt von K.L. Ammer. Mit einem Geleitwort von Stefan Zweig. 7. Auflage. Frankfurt am Main / Leipzig: Insel 1995, 68 S.
  • Villon, François: Des Meisters Werke. Ins Deutsche übertragen von K.L. Ammer. Leipzig: Zeitler 1907, 116 S.

Fachliteratur

  • Faber-Bellion, Colette: Die Rimbaud-Übersetzung von K.L. Ammer. Beispiele aus den Illuminations. In: Johann Holzner / Michael Klein / Wolfgang Wiesmüller (Hgg.): Studien zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts in Österreich. Innsbruck: Institut für Germanistik 1981, S. 121–140.
  • Grimm, Reinhold: Ein Wegbereiter. In: Id.: Strukturen. Essays zur deutschen Literatur. Göttingen: Sachse und Pohl 1963, S. 124–145.
  • Gsteiger, Manfred: Französische Symbolisten in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende (1869–1914). Bern / München: Francke 1971, 324 S.
  • Klammer, Karl: Erinnerungen von k.u.k. Oberstleutnant Karl Klammer. In: Hochland 48 (1956), S. 352–360.
  • Pöckl, Wolfgang: Formen produktiver Rezeption François Villons im deutschen Sprachraum. Stuttgart: Akademischer Verlag Hans-Dieter Heinz 1990, 416 S.
  • Pöckl, Wolfgang: K.L. Ammer (1879–1959) – ein großer Name in statu evanescendi. In: Andreas F. Kelletat / Aleksey Tashinskiy (Hgg.): Übersetzer als Entdecker. Ihr Leben und Werk als Gegenstand translationswissenschaftlicher und literaturgeschichtlicher Forschung. Berlin: Frank & Timme 2014, S. 253–264.
  • Pöckl, Wolfgang: K.L. Ammer (1879–1959). In: Irène Cagneau / Sylvie Grimm-Hamen / Marc Lacheny (éds.)  : Les traducteurs, passeurs culturels entre la France et l’Autriche. Berlin: Frank & Timme 2020, S. 73–83.
  • Wais, Kurt: Drei Typen stilistischen Verhaltens in der italienischen und deutschen Gegenwartslyrik. In: Id.: An den Grenzen der Nationalliteraturen. Vergleichende Aufsätze. Berlin: de Gruyter 1958, S. 313–337.

Autor

Wolfgang Pöckl

Onlinstellung: 05/06/2024