Georg Trakl

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Georg Trakl

Trakl ist eine Ausnahmeerscheinung unter den Lyrikern des Expressionismus, dem er in der Anthologie Menschheitsdämmerung von 1920 zugezählt wurde. Er hat sich selbst als Kaspar Hauser gesehen, als „Ungeborenen“, der niemandem zugehört. Doch in seinem „Kaspar Hauser Lied“ hört man den Nachklang von Verlaines „Gaspard Hauser chante“. Mit Verlaine, Baudelaire und vor allem Rimbaud teilt Trakl die Imago des ‚poète maudit‘, eines drogenabhängigen inzestuösen Fremdlings in der bürgerlichen Gesellschaft. Heute zählt Trakl auch in Frankreich zu den großen Lyrikern neben Hölderlin, Rilke, Baudelaire, Rimbaud und Celan. Diese Anerkennung ist aber außergewöhnlich zögernd vor sich gegangen, vergleicht man sie mit dem Ruhm Rilkes oder Celans.

Trakl und Frankreich

Laurent Cassagnau hat in der Trakl gewidmeten Nummer der Zeitschrift Europe (Nr. 984, 2011) detailliert diese zögernde Rezeption Trakls in Frankreich analysiert, die lange von den Übersetzungen durch Lyriker aus der Peripherie (Schweiz und Elsass) geprägt war. Wenn man von der Anthologie de la poésie allemande absieht, die während der deutschen Besatzung 1942 erschien und 12 Gedichte Trakls enthielt, war vor 1948 nur ein Gedicht („Psalm“) in der von Yvan Goll[1] herausgegebenen Anthologie Les cinq continents. Anthologie mondiale de la poésie contemporaine aus dem Jahr 1920 auf Französisch erschienen.

Nach 1945 fanden sich in Zeitschriften verstreut ausgewählte Übersetzungen von Dichtern: Gustave Roud (1948 und 1964), Henri Stierlin (1956), Eugène Guillevic (1981). 1964 erschien Robert Rovinis[2] Anthologie in der Reihe „Poètes d’aujourd’hui“. Erst 1972 (zweite Auflage 1980) veröffentlichte der Verlag Gallimard Trakls Œuvres complètes in der Übersetzung von Marc Petit und Jean-Claude Schneider, die allerdings alles eher als vollständig war, aber durch ihre Taschenbuch-Ausgabe in der Reihe „Poésie/Gallimard“ (1990) unter dem Titel Crépuscule et déclin/Sébastien en rêve' Trakl einen festen Platz im Pantheon der Lyrik sicherte. Mit dieser Übersetzung beginnt die wahre Anerkennung Trakls. Eine vollständige zweisprachige Ausgabe, geteilt in Poèmes majeurs (1993 und 2001 als Poèmes II) und Poèmes I (frühe Gedichte und zu Lebzeiten Unveröffentlichtes[3], verdankt sich Jacques Legrand, der persönliche Kontakte zu Ludwig von Ficker[4] hatte, dem Herausgeber des Brenner, Trakls ‚Heimat‘, in dem seine wichtigsten Gedichte erschienen waren.

Trakls Position in Frankreich erklärt sich aus drei entscheidenden Faktoren. Der erste ist symbolisiert durch die Formel „der österreichische Rimbaud“ (Cysarz). Die Wirkung Rimbauds auf Trakl geht zurück auf seine Lektüre der ausgewählten Übersetzungen durch K.L. Ammer (1907) und das exaltierte Vorwort Stefan Zweigs, das auf Trakls eigene Imago eingewirkt hat. Der seit langem im Detail dokumentierte ‚Einfluss‘ Rimbauds kombiniert sich mit zwei anderen französischen poetischen Quellen: Verlaine und Baudelaire. Diese Verankerung in der französischen Lyrik geht einher mit dem Bild des sozialen Außenseiters. 1991 hat die ‚Maison de la poésie‘ eine Trakl-Ausstellung, in der auch das unheimliche Selbstporträt zu sehen war, veranstaltet. In diesem Rahmen spielte der Schauspieler Denis Lavant Trakl als gesellschaftliche Randexistenz, als Inkarnation des ‚poète maudit‘. Ein Sonderfall in der Rezeption ist Claude Louis-Combets[5] Blesse, ronce noire[6], eine biographische Reduktion der Dichtung auf den Inzest mit der Schwester Gretl.

Der zweite Faktor steht im kontradiktorischen Gegensatz zur sozialen, psychologischen oder literaturhistorischen Deutung. Es handelt sich um die imperiale Inanspruchnahme des Dichters durch den Philosophen Martin Heidegger, der über Jahrzehnte das philosophische Feld in Frankreich beherrschte. Seine zwei Arbeiten über Trakl („Die Sprache“, 1950, und „Die Sprache im Gedicht. Eine Erörterung von Georg Trakls Gedicht“, 1952) waren 1958 in den Nummern 61 und 62 der NRF erschienen. Sie wurden u.a. von Jacques Derrida in De l’esprit (1987) kommentiert. Für Heidegger spricht nicht der Dichter, sondern die Sprache. Es geht ihm darum, den Ort von Trakls Gedicht zu bestimmen, den er in einem postmetaphysischen „Abendland“ sieht. Heideggers Deutung des Dichters, die unter Verachtung sämtlicher Fakten Trakls Gedichte als ein einziges Gedicht („Georg Trakls Gedicht“ und nicht „Gedichte“) ansah und das Recht auf Gewaltanwendung in der Deutung für sich reklamierte, scheute auch nicht vor etymologischen Manipulationen zurück, z.B. der Verwandlung des „Fremden“ in einen, der zur Philosophie Heideggers unterwegs ist. Das von Heidegger geschätzte Buch des Philosophen Jean-Michel Palmier[7] La situation de Georg Trakl (1972, Neuauflage unter dem Titel Georg Trakl, 1987) folgt einerseits dem Meister, aber im Widerspruch zu ihm hat Palmier versucht, die ‚Situation‘ Trakls auch in der persönlichen, historischen, politischen und intellektuellen Wirklichkeit zu verankern, ohne es mit den Fakten genau zu nehmen. Er parallelisiert den ontologischen „Verfall“ mit dem historischen Verfall (Untergang Österreich-Ungarns). Rémy Colombat[8] hat detailliert die Holzwege von Heideggers Lektüre analysiert. Doch durch Heidegger und Palmier war Trakl zu einer Figur philosophischer Diskussionen geworden.

Schließlich hat die akademische Philologie entscheidend zur Kenntnis Trakls beigetragen. Es ist bezeichnend, dass dabei zunächst das Problem der Übersetzung im Zentrum stand. Im Anschluss an die Œuvres complètes von 1972, deren Übersetzer für eine distanzierte ‚objektive‘ Methode plädierten, widmete sich ein Straßburger Team (Finck, Giraud, Kniffke) der Übersetzungsfrage. Aus Straßburg kam auch die Pionierarbeit Adrien Fincks[9] Georg Trakl. Essai d’interprétation (1974). Ein philologisches Meisterstück war Rémy Colombats Rimbaud–Heym–Trakl. Essais de description comparée aus dem Jahr 1987. Die minuziösen Analysen der Intertextualität (auch der Mängel von Klammers Übersetzungen) führen zur Erkenntnis der Besonderheit Trakls im Vergleich zum französischen Vorbild und der expressionistischen Bewegung, die sich auf ihn beruft. Bei der Frage nach Trakls ‚Ort‘ in Frankreich darf eine Institution nicht vergessen werden: die Concours Agrégation und CAPES, durch die Aberhunderte von Lehramtskandidaten 1987 und 2007 mit Trakl vertraut wurden. Anlässlich der Concours fanden Kolloquien statt, die die Studenten mit dem internationalen Forschungsstand bekannt machen sollten. Der Band „Frühling der Seele“ (1995) hatte als Schwerpunkt Trakls Beziehungen zu seinen französischen Vorbildern Baudelaire, Verlaine, Rimbaud und Mallarmé. Der Beitrag „Celan als Leser Trakls“ demonstrierte, dass Trakl zu einem Ahnen geworden war.

Quellen und externe Links

Bibliografie

Werke (Auswahl)

  • Trakl, Georg: Œuvres complètes. Traduites par Marc Petit et Jean-Claude Schneider. Paris: Gallimard 1972 (zweite Auflage 1980).
  • Trakl, Georg: Poèmes majeurs. Gedichte, Sebastian im Traum, Veröffentlichungen im ‚Brenner‘. Édition bilingue. Traduction de Jacques Legrand. Réédité sous le titre Poèmes II. Paris: GF-Flammarion 1990.
  • Trakl, Georg: Poèmes I. Paris: GF-Flammarion 1990.

Fachliteratur

  • Cassagnau, Laurent: Trakl en France. In: Europe 984 (2011), S. 106–124.
  • Finck, Adrien, Giraud, Huguette et Frédéric Kniffke: Trakl en français. In: Revue d’Allemagne 5 (1973), S. 305–381.
  • Colombat, Rémy: Rimbaud–Heym–Trakl. Essais de description comparée. Berne, etc.: Peter Lang 1987.
  • Colombat, Rémy und Stieg, Gerald (Hg.): „Frühling der Seele“. Innsbruck: Haymon 1995.
  • Finck, Adrien: Georg Trakl. Essai d’interprétation. Lille 1974.

Autor

Gerald Stieg

Onlinestellung: 01/10/2024