Wolfgang Paalen

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Wolfgang Paalen (ca. 1940/1946)

Der Maler, Bildhauer und Kunsttheoretiker Wolfgang Paalen (* 22. Juli 1905 in Wien, † 24. September 1959 in Taxco de Alarcón, Mexiko) gilt als einziger Vertreter der sog. Wiener Moderne im französischen Surrealismus und hinterließ neben seinem heterogenen bildnerischen Werk zahlreiche theoretische Schriften, Gedichte, Theaterstücke und Kurzgeschichten. Nach seiner Mitgliedschaft in der Pariser Gruppe Abstraction-Création von 1934–35 schloss er sich 1935 der Pariser Surrealistengruppe an und spielte in der Folge eine herausragende Rolle als Maler und Ideengeber. Während seines Exils in Mexiko ab 1939 gab er das gegen-surrealistische Kunstmagazin DYN heraus, mit dem er divergierende materialistische und mystische Tendenzen des Surrealismus über eine Philosophie der Kontingenz zu versöhnen suchte, die mit Denkansätzen des Wiener Kreises und Ludwig Wittgensteins vergleichbar sind. Während seines Aufenthalts in Paris von 1951 bis 1954 versöhnte er sich mit dem Surrealisten André Breton und wirkte nochmals in dessen Kreis bis zu seiner Rückkehr nach Mexiko, wo er sich 1959 das Leben nahm.

Biografie

Wolfgang Paalen in Paris (1933)

Wolfgang Paalen wurde 1905 als erster von vier Söhnen des österreichisch-jüdischen Großkaufmanns und Erfinders Gustav Robert Paalen und seiner deutschen Frau, der Schauspielerin Clothilde Emilie Gunkel in Wien geboren. Die ersten Jahre verlebte Wolfgang Paalen in Wien und Tobelbad in der Steiermark, wo sein Vater das legendäre Kurhotel betrieb, in dem Alma Mahler[1] Walter Gropius[2] kennenlernte. 1912 zog die Familie in das schlesische Sagan, wo Wolfgang Paalen die Grundschule und das humanistische Gymnasium (Lateinschule) besuchte, bevor die Familie während des Krieges einen Privatlehrer engagierte. 1938, auf dem Höhepunkt seiner surrealistischen Zeit, hob er den „Feenzauber, der eines nachts in meiner Kindheit stattfand[3]“, als einschneidendes Erlebnis in Sagan hervor; es wurde ihm zur Grundlage seiner halluzinativen Bildwesen, deren bildnerische Erkundung später den Hauptkonnex in der Freundschaft mit Breton und dem Surrealismus bilden würde.

Wolfgang Paalen, Le nuage articulé, 1937 (2023)

Während der Kriegsjahre beschäftigte sich Paalen auch intensiv mit den dichterischen Werken der deutschen Romantik, der Philosophie Arthur Schopenhauers und den indischen Veden. Nach Aufenthalten in Rom und Berlin zog es ihn ab 1925 bereits nach Frankreich (Paris und Cassis), wo er in Kontakt zu Roland Penrose[4], Jean Varda[5] und Georges Braque[6] kam. 1927/28 besuchte er die Kunstschule von Hans Hofmann[7] in München und Saint Tropez, kritisierte aber dessen metaphysische Theorie. Paalen studierte 1932 für kurze Zeit bei Fernand Léger[8] und wurde 1933 Mitglied der Gruppe Abstraction-Création. Er verließ die Gruppe bereits 1935 zusammen mit Hans Arp[9] und Jean Hélion[10]. In seinem Werk dieser Periode versuchte Paalen, die rigiden bildnerischen Regeln der Gruppe aufzuweichen und zu poetisieren, ein Ansatz, der ihn für seine Arbeit an einer theoretischen und bildnerischen Reform der surrealistischen Grundlagen Bretons während des Zweiten Weltkrieges in Amerika vorbereitet. Die Resultate aus den frühen 1930er Jahren sind als eine Art Sprachspiel zu sehen: den Punkt zu testen, bis zu welchem konkrete Formen zurückgenommen werden können, um vielfältige Bedeutungen in der Imagination des Betrachters auszulösen, bevor sie bedeutungs- und spannungslos werden. 1934 heiratete er die französische Hutdesignerin und Dichterin Alice Phillipot[11] und befreundete sich eng mit Roland Penrose und seiner Frau Valentine, die die Paalens mit Paul Eluard[12] in Kontakt brachten.

Wolfgang Paalen, L'heure de la femme où la terre se mouille, 1938
Wolfgang Paalen, Les étrangeres, 1937

Im Sommer 1935 lernte er André Breton[13] kennen. Mit Breton und Penrose beteiligte er sich an der Organisation der „Exposition surréaliste d´objets“ in der Galerie Charles Ratton und der „International Surrealist Exhibition“ in den New Burlington Galleries (1936) in London, auf der er sein erstes, mit Kerzenrauch gemaltes Bild (Fumage) präsentierte (Dictated by a Candle). 1936 zeigte er seine Bilder in einer Einzelausstellung in der Galerie Pierre Loeb dem neugewonnenen Pariser Publikum. Zusammen mit Marcel Duchamp[14], Man Ray[15] und Salvador Dali[16] zeichnete Paalen 1937/1938 unter den verantwortlichen Gestaltern der Ausstellung Exposition Internationale du Surréalisme in der Galerie des Beaux-Arts in Paris. Er installierte darin einen echten Seerosenteich, genannt Avant la mare, mit Schilf, Seerosen, Efeu und Wasser und ließ den gesamten Boden der Ausstellungsräume, inspiriert von einem eigenen Werk Le sol de la forêt von 1933, mit nassem Laub und feuchter Erde aus dem Friedhof Montparnasse bedecken. Die Puppe, die Paalen dekorierte und Man Ray, Denise Bellon[17] u.a. im Foto festhielten, wirkte mit ihrem Seidentuch, der riesigen Fledermaus über dem Kopf und dem schaurigen, pilzbesetzten Blätterkleid, wie eines der kaum sichtbaren, schwebend dahingleitenden totemistischen Feenwesen aus seinen, mit Fumage und Öl gemalten Bildern, die er im Mai desselben Jahres in der Surrealistengalerie Renou et Colle zeigte. Paalen beteiligte sich auch an der Ausarbeitung des Katalogbuches Dictionnaire abrégé du surréalisme, in dem sein wichtigstes und bekanntestes Objekt Nuage articulé diskret als Zeichnung angekündigt wurde.

Der Wachtraum als Bildmotiv

In den Bildern, die Paalens Ruf als Maler nicht nur in Paris durch Renou et Colle, sondern vor allem in New York durch die Ausstellung 1940 bei Julien Levy[18] begründen würden, gelingt Paalen unerwartet eine Verschmelzung surrealistischer und kubistischer Bildprinzipien. Das Bild wird zu einer flachen Erscheinungsfläche malerischer Mittel (wie im Kubismus) und zeigt dennoch poetische Erscheinungen und phantastische Gebilde, die auf diesen Bildern tatsächlich den Prozess zum Thema machen, durch den sie im Kopf des Betrachters während eines wachträumerischen Zustands entstehen. In Taches solaires oder Ciel de pieuvre zeigte sich Paalen als ein Maler mit einer außerordentlich fein abgestimmten, detailgenauen lyrischen Begabung, die alle dialogischen Prozesse des Sichtbaren und Denkbaren in diesem intrasubjektiven Bereich mit einfühlsamer Zartheit zu inszenieren wusste. Kein Maler vor ihm hatte diesen Bewusstseinszustand des Erwachens mit seinen blitzschnellen Überlagerungen von sichtbaren Gegenständen mit imaginierten Projektionen bisher so genau portraitiert.

Exil und DYN

Gewarnt von der immer aggressiveren Kriegspolitik des Nazi-Regimes, angezogen von der indianischen Totem-Kultur Britisch-Kolumbiens und mit der Einwilligung Bretons ausgestattet, in Mexiko eine große Surrealismusausstellung zu organisieren, entschied sich Paalen im Frühjahr 1939 als erster Surrealist, Europa zu verlassen. Am 12. Mai reiste er mit einem tschechischen Pass, seiner Frau Alice, seiner Freundin Eva Sulzer[19], einer Einladung Frida Kahlos[20], einem Konvolut surrealistischer Zeichnungen und Fotografien als Grundstock der geplanten Ausstellung und einem Empfehlungsschreiben Bretons an den exilierten Leo Trotzki auf der TSS Nieuw Amsterdam von Boulogne nach New York. Noch in der ersten Juni-Woche reisten die drei Europäer mit dem Zug über Albany, Vermont, Montréal, Ottawa und Winnipeg bis in die ersten indianischen Gebiete um den Skeena River zwischen Jasper und den wild zerklüfteten Insellandschaften vor Prince Rupert. Von dort nahmen sie ein Schiff durch die Insellandschaft Britisch-Kolumbiens über Ketchikan nach Sitka, um von dort mit dem Flugzeug in Richtung Juneau, dem nördlichsten Punkt ihrer Reise in Alaska aufzubrechen. Eva Sulzer hielt in enger Absprache mit Paalen die Ansichten dieser Reise dokumentarisch fest, die auf diskrete und anspielungsreiche Weise mit der Erzählung Paysage totémique, den Tagebüchern und seinen Bildern von 1937-39 korrespondieren. In W.C. Waters Bear Totem Store in Wrangell gelingt ihm die wichtigste Erwerbung seines Lebens als Sammler: die 4,6 x 2,7 Meter große Hauswand mit der Darstellung einer Bärenmutter, die er später in DYN publizierte und die über fast zehn Jahre zusammen mit dem Walphallus sein Studio im mexikanischen San Angel zieren würde.

Wolfgang Paalen, Le genie de l'espèce, 1938 (2017)

Am 14. September 1939 erreichen sie Mexiko und Paalen machte sich sofort daran, die große Surrealismusausstellung vorzubereiten, die Anfang 1940 in der Galeria de Arte Mexicano eröffnet wird. In Mexiko experimentierte er, parallel zu der Arbeit an seinen Essays für die geplante Zeitschrift, mit einer neuen Raumauffassung in der Malerei. Ausgehend von der Fumage behandelte Paalen die Leinwand in diesen transitorischen Arbeiten als eine Art magnetisches Ereignisfeld, einen multidimensionalen Innenraum, der zugleich Außenraum war, in dem sich stellvertretend für Gefühle und Gedanken Punkte und Linien entfalteten wie Mikropartikel in einer Nährflüssigkeit aus Farbe und Licht. Die malerischen Mittel sollten nun auf sehr viel direktere Weise die poetischen Stürme der emotionalen Entfaltung spiegeln, ganz ohne Mythologien oder direkten und persönlichen Anspielungen zu kindlichen Epiphanien. Dem New Yorker Galeristen Julien Levy waren die abtrünnigen Tendenzen, verpackt in Paalens Kritik an Dalí, spätestens seit Mai 1939 bekannt, was ihn nicht davon abhielt, dem Exilanten eine reichbeworbene und letztlich enthusiastisch rezensierte Einzelausstellung in seinen neuen, kurvig gestalteten Räumen in der 57. Straße auszurichten, zu dem ein origineller Katalog mit dem Foto des Revolverobjekts Le génie de l´espèce aus zwei plastifizierten Kartons mit eingeschnittenen Fenstern erschien, die sich wie ein Kinderbuch nach Belieben drehen und wenden ließen.

Als sich Breton nach der Ermordung Leo Trotzkis für ein Exil in New York entschieden hatte, drängte es Paalen den latenten Konflikt mit Breton über eine eigene Zeitschrift zu veröffentlichen, die ab März 1942 bis 1944 unter dem Namen DYN in zusammen 6 Nummern erschien. Die neue Erforschung der heftigen Korrespondenz mit Paalen zeigt, dass Breton den Freund zunächst dazu ermutigte, sich dann aber mit der eigenen Zeitschrift VVV explizit gegen Paalens, aus der Quantenphysik abgeleitete Kontingenzphilosophie wendete, die dieser an Stelle der alten freudo-marxistischen Grundsätze des Surrealismus hatte setzen wollen. Parallel entstanden neue Bilder, wie Polarités majeures, Espace libre, Le messager und Les premières spaciales. Ihnen allen war ein gänzlich neuer Typus von Bildraum eigen, weil Paalen hier mit einem kühnen Rückgriff auf seine vorsurrealistischen Bildgedanken Erscheinungswesen konsequent auf nichts als bildimmanente, malerische Mittel begründete: Rhythmus, Licht und Farbe. Sie arbeiteten den kubistischen Rhythmus, den er in einem gleichzeitig verfassten Text Über die Aktualität des Kubismus mit der Fuge und dem Jazz verglich, durch eine mosaikhafte Faktur und komplementäre Kontraste heraus und trugen damit das natürliche Stakkato der Fumage-Spuren in einen auratisch erfüllten, chorusartigen Klangraum, wie er in der Musik zwischen Instrumenten und Hörern entsteht. Mit diesen, von einer präfigurativen Räumlichkeit geprägten Bildern und seinen Essays, wurde Paalen für wenige Jahre zum meistdiskutierten und einflussreichsten der europäischen Künstler im Exil. In seiner Theorie des beobachterabhängigen Möglichkeitsraumes, die der abstrakten Malerei in den vierziger Jahren neue Schwungkraft und ein einheitliches, neues Weltbild vermittelte, verarbeitete Paalen ebenso Erkenntnisse der Quantenphysik, wie eigenwillige Interpretationen der totemistischen Weltauffassung und der räumlichen Strukturen indianischer Malerei der Nord-West-Küste. Robert Motherwell studierte 1941 und 1943 bei ihm in Mexiko und gab 1945 seine Aufsätze unter dem Titel Form and Sense als erste Ausgabe der Serie Problems of Contemporary Art in New York heraus, in der 1947 auch die erste Publikation der Abstrakten Expressionisten, Possibilities, in analogischer Weiterführung von Paalens DYN (von griech. to dynaton = das Mögliche) erschien. Seine Raumtheorie wurde 1951 nochmals im Katalogbuch zu der Ausstellung Dynaton, A New Vision im San Francisco Museum of Art unter dem Titel Metaplastic zusammengefasst.

Quellen und externe Links

Bibliografie

  • Neufert, Andreas: Wolfgang Paalen. Im Inneren des Wals. Springer, Wien und New York 1999 (Monografie und Werkverzeichnis).
  • Neufert, Andreas: Auf Liebe und Tod. Das Leben des Surrealisten Wolfgang Paalen. Parthas, Berlin 2015.
  • Neufert, Andreas: PAALEN Life and Work – I. Forbidden Land: The Early and Crucial Years 1905–1939. Berlin/Hamburg 2022.
  • Neufert, Andreas: Andreas: PAALEN Life and Work – I. Forbidden Land: The Early and Crucial Years 1905–1939. Begleitbotschaft des Autors zu der englischen Ausgabe der Paalen Biografie November 2022. URL: https://www.youtube.com/watch?v=zniCMLfvjh8
  • Regler, Gustav: Wolfgang Paalen. Nierendorf Editions, New York 1946.
  • Schrage, Dieter: Paalen, Wolfgang Robert. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 19, Duncker & Humblot, Berlin 1999.
  • Winter, Amy: Wolfgang Paalen. Artist and Theorist of the Avantgarde Praeger, Westport (Connecticut) 2002.

Autor

Andreas Neufert

Onlinestellung: 29/01/2025