Gerhild Diesner

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Gerhild Diesner © Nachlass Diesner

Die Malerin Gerhild Diesner (* 4. August 1917 in Innsbruck, + 4. September 1995 ebenda) trug wesentlich zum Wiederaufbau der modernen Kunst in Österreich nach der Unterdrückung durch das NS-Regime bei. Durch ihre Ausbildung in England und Frankreich vor und während des Zweiten Weltkriegs konnte sie ab 1945 die Lehre der französischen Nabis, der Fauves und des Kubismus weiterentwickeln. In zahlreichen Ausstellungen und Arbeiten im öffentlichen Raum führte sie die kunstinteressierte Tiroler Öffentlichkeit an diese Ideale heran und erreichte dafür hohe Wertschätzung.

Biografie

Gerhild Diesner, Selbstporträt, 1944, Privatbesitz

Gerhild Diesner wurde als drittes von fünf Kindern einer gutbürgerlichen Tiroler Familie geboren. Der Vater Rudolf Diesner war Jurist in der Innsbrucker Staatsbahndirektion, die Mutter Maria, geborene Pircher, entstammte einer wohlhabenden Familie aus Brixen. Die Töchter sollten nicht nur eine gute Erziehung erhalten, sondern auch eigene Berufe erlernen und ihren individuellen Interessen folgen. Wegen der schwierigen Verhältnisse in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg mussten sie eine Perspektive außerhalb Tirols erhalten. Daraus ergaben sich bemerkenswert kosmopolitische Biografien. Diesners ältere Schwester Gertrude (1909-1999) ging nach London und arbeitete dort bis zu ihrer Heirat in einer Werbeagentur. Gerhild konnte 1929-1930 ein Schuljahr im Mädchenpensionat Beaupré in Genf verbringen. 1932 bis 1935 besuchte sie in Innsbruck die Ferrarischule, eine höhere Bildungsanstalt für wirtschaftliche Berufe. Ihr frühes künstlerisches Interesse ließ sie dort einen Mode-Schwerpunkt wählen. Danach begann Diesner ein erstes Kunststudium in England, wo sie bei ihrer Schwester lebte. 1935-1937 lernte sie an der Chelsea Art School in London sowie an der Brighton School of Art bei Charles Knight. In Londoner Buchhandlungen informierte sie sich über den französischen Postimpressionismus und die Kunst Vincent van Goghs. Nach ihrer Rückkehr studierte sie 1937-1939 an der Münchner Kunstgewerbeschule bei den Grafikern Ernst von Dombrowski, Fritz Helmut Ehmcke und Emil Preetorius. In München sah sie die NS-Propagandaschau „Entartete Kunst“ (Galeriegebäude am Hofgarten, 19.7.-30.11.1937). Dort wurden vor allem Werke des Expressionismus sowie von jüdischen Künstlern in einem diffamierenden Kontext gezeigt. Diesner bezeichnete dieses Erlebnis – in diametralem Gegensatz zu den politischen Intentionen der Ausstellung – als die „stärksten künstlerischen Eindrücke aus dieser Zeit“.

Gerhild Diesner, Stilleben Grande Chaumière, 1943, Privatbesitz
Gerhild Diesner, Garten bei Marseille, 1943, ausgestellt im Institut Français 1948, Privatbesitz

Zurück in Innsbruck, begegnete Diesner 1939 dem Maler Max von Esterle[1], der 1897-1900 an der École des Beaux-Arts in Paris studiert hatte. Nach kurzen Etappen als Hotel-Sekretärin im Gasteiner Tal (1940) und im verpflichtenden Arbeitsdienst an der Technischen Hochschule Dresden (1941) besuchte sie Esterles Zeichenkurse an der Universität Innsbruck. Auf Esterles Vermittlung arbeitete sie auch im lokalen Volkskundemuseum, wo sie an der Dokumentation bäuerlicher Möbelmalerei mitwirkte. In den jährlichen „Tiroler Gaukunstausstellungen“ zeigte sie erstmals öffentlich ihre farbintensiven Bilder. Im Frühjahr 1943 verschaffte ihr der Münchner Bauunternehmer Josef Woerner eine vorgetäuschte Stellung als Zeichnerin in einem Planungsbüro der Organisation Todt im besetzten Paris. De facto bezog Diesner jedoch ein Atelier im siebenten Arrondissement und später eines in der Rue Le Sueur am Rande des Bois de Boulogne. Sie lernte in der Kunstschule des orthodoxen Kubisten André Lhote[2] und kurzzeitig auch an der privaten Académie de la Grande Chaumière[3]. In ihren Erinnerungen berichtete sie von Ausstellungen mit Bildern von Gauguin, Van Gogh, Matisse, Bernard, Bonnard und Braque, die sie beeindruckten. Eine Studienreise in die Provence und nach Marseille führte Diesner erstmals an die mediterranen Wirkungsstätten der Pioniere der klassischen Moderne. Kurz vor der Invasion der Alliierten in der Normandie reiste sie im Mai 1944 nach Oberbayern. Dort besuchte sie in Wessling nahe dem Ammersee eine Künstlerkolonie um Heinrich Brüne[4], der Südfrankreich bereist hatte und Landschaften in der Auffassung von Cézanne malte. Im Juni 1944 kehrte Diesner nach Innsbruck zurück, das am 3. Mai 1945 von der US-Armee befreit wurde. Danach schloss sie sich dem Zeichner Paul Flora[5], dem deutschen Bildhauer und Designer Bodo Kampmann[6] und dem Architekten Jörg Sackenheim an. Die Gruppe lebte in der Karl-Schönherr-Straße 9 in einer Art „offenem Haus“, in dem die Tiroler Nachkriegs-Avantgarde verkehrte. Wohl auch wegen Diesners Kunstausbildung in Frankreich machte Jean Rouvier[7], Chef des Service des Beaux-Arts der französischen Militärregierung in Österreich, Vita Künstler, die Leiterin der von Otto Kallir[8] gegründeten Neuen Galerie in Wien, 1946 mittels Fotos auf die junge Tiroler Malerin aufmerksam. So wurde sie zu einer Ausstellung gemeinsam mit Werken der Malerin Caroline Kubin[9] (1860-1945) eingeladen. Ebenfalls 1946 stellte Diesner mit dem Bund Tirol, einem kurzlebigen Sammelbecken aller modernen Künstler des Landes, in Innsbruck aus. 1947 erwarb die Wiener Albertina aus einer Ausstellung des Art Club eine erste Zeichnung von Diesner. Zu dieser Zeit war sie auch Teil des Künstlerkreises um das Institut Français in Innsbruck, das 1948-1958 vom Germanisten und Kunsthistoriker Maurice Besset geleitet wurde.

Gerhild Diesner, Pflügender Bauer in Alpach, 1946, Privatbesitz

Besset veranstaltete zahlreiche wirkungsvolle Ausstellungen moderner Kunst und Architektur aus Frankreich, förderte aber auch intensiv Künstler aus Tirol. Diesner heiratete nach der Geburt ihrer Tochter Olivia 1947 und einem weiteren Aufenthalt bei ihrer Schwester in London 1948 ihren damaligen Lebensgefährten Bodo Kampmann. 1948-1953 lebte die Familie in Seefeld, wo sich ein Kreis von Tiroler Künstlern und Intellektuellen um die Journalistin, Dichterin, Übersetzerin und Kunsthistorikerin Lilly von Sauter gebildet hatte. Vom 20. Mai bis 7. Juni 1948 präsentierte sich Diesner gemeinsam mit den Malern Walter Honeder[10], Jakob Lederer, Helmut Rehm[11], Werner Scholz[12], Max Weiler[13], den Zeichnern Fritz Berger[14] und Paul Flora sowie den Plastikern Bodo Kampmann, Franz Santifaller[15] und Ilse Glaninger-Halhuber[16] erfolgreich im Innsbrucker Institut Français. 1952 wurde Diesners Sohn Nils geboren. 1953 zog sie zurück nach Innsbruck, wo sie mit ihrem Sohn bei ihrer Mutter in der Schillerstraße 20 lebte.

Nach den intensiven ersten Nachkriegsjahren, in denen sie sich an mehr als einem Dutzend Ausstellungen in Wien, Deutschland und Tirol beteiligt hatte, nahm Diesner nun seltener und vorwiegend an regionalen Ausstellungen teil. Außerdem führte sie einige Aufträge für Kunst im öffentlichen Raum aus. Dies und ihr persönliches Netzwerk an Sammlern sicherten ihr ab den 1960er Jahren den Status als höchst anerkannte Künstlerin, die ein relativ zurückgezogenes Leben führte. Ihre Studienreisen führten Diesner nun in heimatliche Regionen und nach Italien, vor allem an den Gardasee. Zu ihren Lebzeiten erschienen zwei Buchmonografien über ihr künstlerisches Œuvre.


Werk

Gerhild Diesner, In Memoriam Paul Gauguin, 1948, Privatbesitz

Diesner wählte als Malerin einen konsequent kosmopolitischen, von Anfang an selbstbestimmten Bildungsweg. In der Moderne Österreichs war Ähnliches bis dahin nur den Malerinnen Broncia Koller[17], Helene Funke und Helene von Taussig gelungen, die vor dem Ersten Weltkrieg in Frankreich die Kunst der Nabis und der Fauves kennengelernt hatten. Diesner machte sich von Kindheit an in der französischen Schweiz, in Deutschland, England und Frankreich mit den westlichen Kulturen vertraut. In scharfem Gegensatz zur NS-Kulturdoktrin, die in Deutschland und Österreich den Kunstbetrieb ihres dritten Lebensjahrzehnts bestimmte, arbeitete sie unbeirrt im klassisch-modernen „raumlosen“ Stil aus farbintensiven, klar konturierten Flächen. Klassische Sujets wie Landschaften und Interieurs sowie Porträts und Stillleben bestimmten die Arbeit. Später erinnerte sie sich in allegorischen Bildern der frühen Prägungen in Frankreich. So konnte sie nach dem Kriegsende die westliche Moderne ansatzlos in der jungen Zweiten Republik Österreichs fortsetzen und durch ihr Vorbild verbreiten helfen.

Großformatige Werke im öffentlichen Raum entstanden unter anderem an Schulen in Arzl und Innsbruck, an einem Wohnhaus in Wörgl, beim Münchner Bauunternehmen Sager & Woerner, in der Medizinischen Universitätsklinik, im Arbeitsamt und im Wirtschaftsförderungsinstitut Innsbruck. Die Funktion der Kunst sah Diesner eindeutig in lebensbejahenden Ausdrucksweisen. In den frühen 1950er Jahren notierte sie: „Schlimmeres gibt es nicht, wenn ein Bild ‚FAD‘ ist! Schwung u. Freude muß es beinhalten[18].“ Trotz der Verbreitung des Informel und des abstrakten Expressionismus (unter anderem durch ihre Generationsgenossin Maria Lassnig, die 1951 gemeinsam mit Arnulf Rainer in Paris André Breton[19] besucht und das frühe Informel erlebt hatte) hielt Diesner stets an der gegenständlichen Lesbarkeit ihrer Bilder fest. Auch vom klassischen Typ des Tafelbildes verabschiedete sie sich entgegen dominierenden Zeitströmungen niemals. So etablierte sie eine bemerkenswerte Kontinuität klassisch-moderner Kunst von den 1930er bis in die 1990er Jahre. „Ohne Matisse und Cézanne, ohne Van Gogh und Gauguin, ohne Frankreich wäre das alles nicht möglich[20]“, sagte sie rückblickend in ihren späten Jahren.

Quellen und externe Links

Bibliografie

  • Kirschl, Wilfried: Gerhild Diesner. Auswahl aus dem Werk. , Innsbruck:, Edition Galerie im Taxispalais 1979 (1989 2).
  • Diesner, Ausstellungskatalog., Innsbruck: Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum (Innsbruck) 1995.
  • Matthias Boeckl, Matthias: Gerhild Diesner 1919-1995, Götzens: (Kunstinitiative Tirol) 2007.

Autor

Matthias Boeckl

Onlinestellung: 14/10/2024