Jacques Lajarrige

Der französische Germanist Jacques Lajarrige, 1960 in Angers geboren, spielt dank seiner wissenschaftlichen Tätigkeit und Forschungsleitung, seiner redaktionellen Arbeit als Direktor und Chefredakteur der Zeitschrift Austriaca sowie seiner Übersetzungstätigkeit eine führende Rolle bei der Vermittlung der österreichischen Literatur und Kultur in Frankreich.
Biografische Angaben
Nach einem Studium der Germanistik an den Universitäten Nantes, Paris IV-Sorbonne und Lille bestand Jacques Lajarrige 1982 das CAPES externe d’allemand und 1984 die Agrégation externe d’allemand. Vier Jahre später, 1988, verteidigte er an der Universität Lille unter der Leitung von Erika Tunner eine Thèse nouveau régime über Hans Carl Artmann: Hans Carl Artmann. Tradition littéraire et exercices de style (diese Arbeit wurde unter demselben Titel 1992 im Hans-Dieter Heinz-Verlag in Stuttgart veröffentlicht). 1994 habilitierte sich J. Lajarrige an der Universität Paris 12 (Betreuerin: Erika Tunner) mit einer Studie mit dem Titel: Entre mythe et réalité sociale. Exercices de style dans les littératures allemande et autrichienne contemporaines. Jacques Lajarrige war zunächst Dozent (Maître de conférences) an der Universität Blaise Pascal – Clermont 2 (1989-1994), er wurde dann Professor für deutschsprachige Literatur an der Universität Orléans (1994-1997), an der Universität Blaise Pascal – Clermont 2 (1997-2001), an der Universität Paris 3 (2001-2011) und schließlich an der Universität Toulouse 2 – Jean Jaurès (seit 2011). An dieser Universität leitete er das Centre de recherches et d’études germaniques (CREG) von 2012 bis 2022 und war von 2012 bis 2020 für den Forschungsmaster in Germanistik verantwortlich.
Forschungsschwerpunkte und wissenschaftliche Betreuertätigkeit
Jacques Lajarriges Forschungsschwerpunkte sind: Literatur und Kulturgeschichte Österreichs vom 19. bis zum 21. Jahrhundert; moderne und zeitgenössische Lyrik[1]; Mitteleuropa – Geschichte eines transnationalen Diskurses und deutschsprachige Literaturen des mitteleuropäischen Raums.
Was J. Lajarriges Studien zur österreichischen Literatur betrifft, so decken sie einen breiten Zeitraum vom 19. Jahrhundert (Franz Grillparzer, Eduard von Bauernfeld) bis zur Gegenwart ab (insbesondere die Wiener Gruppe[2]: Hans Carl Artmann, Gerhard Rühm[3]; Ernst Jandl und Friederike Mayröcker; der Wiener Aktionismus mit Günter Brus[4]; Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Milo Dor[5], Marlen Haushofer[6], Joseph Roth, Elfriede Jelinek, Evelyn Schlag[7], Christoph Ransmayr[8], Peter Handke; Rose Ausländer, Oskar Pastior[9], Heimrad Bäcker[10]). Die Vielfalt der behandelten Autor*innen und der Untersuchungsfelder sowie die Fülle der Veröffentlichungen von J. Lajarrige sind beeindruckend. In seinen Publikationen untersucht er mit großem Feingefühl die Brüche und Kontinuitäten, die die österreichische Literatur durchziehen, insbesondere die Frage der Trauerarbeit und des Schreibens über den Holocaust[11] oder die Position der Schriftsteller*innen zur österreichischen Nazi-Vergangenheit[12]. Seine zahlreichen Aufsätze zur zeitgenössischen österreichischen Lyrik[13] zeigen, wie sehr „sie eine lange Tradition der kritischen Reflexion über Sprache fortsetzt, die sowohl bei Wittgenstein als auch bei Karl Kraus Ausdruck findet[14]“. Geht man aber bis zu Grillparzer zurück, ist der Beitrag von J. Lajarrige ebenso bedeutsam: Er hat nicht nur eine sehr umfangreiche Darstellung Grillparzers für den von Jean-Claude Polet herausgegebenen Band Patrimoine littéraire européen (Brüssel: De Boeck 1999, Bd. XI, S. 860-869) verfasst, sondern hat auch die Reisetagebücher des Autors, in denen sich der historische Ansatz und die reflexive Dimension des viatischen Schreibens als eng miteinander verbunden erweisen[15], Grillparzers Position zur Frage der Nationalitäten[16], Grillparzers Platz in der Literaturgeschichtsschreibung in Österreich[17] eingehend analysiert; dabei vernachlässigte er nicht das – auch politische – literarische Nachleben des Autors[18].
Was die neuesten von J. Lajarrige herausgegebenen Sammelbände betrifft, so seien hier als Beispiele genannt : Modernité du mythe et violence de l’altérité: La Toison d’or de Franz Grillparzer (hrsg. mit Marc Lacheny und Éric Leroy du Cardonnoy), das 2016 bei den Presses Universitaires de Rouen et du Havre in der Reihe „Études autrichiennes“ (Bd. 15) erschien, und Dekonstruktion der symbolischen Ordnung bei Marlen Haushofer: Die Wand und Die Mansarde (hrsg. mit Sylvie Arlaud, Marc Lacheny und Éric Leroy du Cardonnoy), erschienen 2019 bei Frank & Timme in der Reihe „Forum: Österreich“ (Bd. 9) im Rahmen der Vorbereitung auf das CAPES und die Agrégation d’allemand; hinzu kommen Irreführung der Dämonen. Acht Essays zu Gregor von Rezzori (zusammen mit Andrei Corbea-Hoisie), erschienen 2015 im Parthenon Verlag in Kaiserslautern; Gregor von Rezzoris „Tanz mit dem Jahrhundert“ (zusammen mit Fred Nielsen), erschienen 2018 bei Frank & Timme in der Reihe „Forum: Österreich“ (Bd. 7); Literaturbeziehungen im Kalten Krieg – Österreich und die DDR (hrsg. mit Alfred Prédhumeau), das 2025 auch bei Frank & Timme in der Reihe „Forum: Österreich“ (Bd. 21) erscheint.
Darüber hinaus hat Jacques Lajarrige zahlreiche Dissertationen mit Bezug zu Österreich betreut. Um einen Eindruck vom Forschungsspektrum seiner Doktorand*innen zu vermitteln, genügen einige Beispiele: écritures du corps in den Werken von Evelyn Schlag und Elfriede Jelinek; écritures de soi in den Werken von Gregor von Rezzori; Hylé I und Hylé II von Raoul Hausmann; der Umgang mit Zitaten in den Letzten Tagen der Menschheit von Karl Kraus; das extime Schreiben in den fiktionalen Werken von Peter Handke (2002-2011); die Analyse des Skeptizismus und seiner visuellen Formen in drei Erzählungen von Arthur Schnitzler; Rilkes Dichtung im Kontext seiner Übersetzungen aus dem Französischen und Dänischen; Das Haus am Ring: Bau und Wiederaufbau der Wiener Staatsoper; Joseph Roth und Stefan Zweig angesichts der Umwälzungen in der Zwischenkriegszeit.
Editorische Tätigkeit: Austriaca, die Reihe « Études autrichiennes » und Frank & Timme (« Forum: Österreich »)
Seit 2004 ist Jacques Lajarrige Direktor und Chefredakteur der Zeitschrift Austriaca. Cahiers universitaires d’information sur l’Autriche. In dieser Funktion hat er als Nachfolger von Felix Kreissler, Gilbert Ravy und Gerald Stieg die Zeitschrift weiter für junge Forscher*innen, für Kolleg*innen mit unterschiedlichen Hintergründen geöffnet. Es wurden neue Sektionen geschaffen („Neueste Veröffentlichungen über Österreich“, zusammengestellt von J. Lajarrige), andere wie „Ideen und Fakten“ wieder eingeführt, und das Redaktionskomitee wurde größtenteils erneuert. Als deutliches Indiz für Modernisierung erhielt die Zeitschrift 2018 auch Zugang zum Online-Portal Open Edition Journals, und seit August 2024 sind die Ausgaben 1 bis 84–85 auf der Plattform Persée verfügbar.
Neben seiner Tätigkeit als Chefredakteur gab J. Lajarrige allein oder gemeinsam mit anderen Kolleg*innen zahlreiche Nummern von Austriaca im Zusammenhang mit seinen Forschungsschwerpunkten heraus, wie z.B. Österreichische Lyrik seit 1945 (Nr. 45), Gregor von Rezzori (Nr. 54), Elfriede Jelinek (Nr. 59), Reiseliteratur. Österreichische Blicke auf die Welt (Nr. 62); Das österreichisch-ungarische Kaiserreich: die Herausforderungen der deutschen Präsenz in Mitteleuropa (1867–1918) (Nr. 73); Peter Handke und die Autonomie der Literatur (Nr. 92).
J. Lajarrige ist außerdem gemeinsam mit Jean-Numa Ducange für die Reihe „Études autrichiennes“ bei den Presses universitaires de Rouen et du Havre verantwortlich – eine Reihe, die die neuesten Forschungsergebnisse zur österreichischen Kultur bekannt machen und verbreiten soll. Bisher sind 16 Ausgaben erschienen, die sich sowohl mit Geschichte, Literatur und Kunst, als auch mit gesellschaftlichen Fragen befassen.
Schließlich hat J. Lajarrige gemeinsam mit Helga Mitterbauer, Professorin an der Freien Universität Brüssel, die Reihe „Forum: Österreich“ beim Verlag Frank & Timme in Berlin gegründet, deren Mitherausgeber er ist. Diese Reihe, die seit ihrem Start im Jahr 2014 bereits an die 20 Titel publiziert hat, will Monografien und Sammelbände zu Österreich im weiteren Sinne aus den Bereichen Literatur, Kultur- und Politikgeschichte veröffentlichen. So erschienen bisher Bücher über Andreas Latzko[19], Richard Beer-Hofmann, Vicky Baum, Marlen Haushofer, Gregor von Rezzori, Raoul Schrott, Franz Blei, Joseph Roth, Soma Morgenstern[20] und Franz Kafka, sowie über die Rolle der Übersetzer*innen (Les traducteurs, passeurs culturels entre la France et l’Autriche) oder die gegenseitige französisch-österreichische Imagologie (Französische Österreichbilder – Österreichische Frankreichbilder).
Übersetzungstätigkeit
Jacques Lajarriges reiche wissenschaftliche und editorische Tätigkeit darf auch nicht seine Tätigkeit als Übersetzer im Dienste der Autoren und Werke, die ihm am Herzen liegen, vergessen lassen. Hier ist zunächst seine Übersetzung von Grillparzers berühmter Novelle Der arme Spielmann zu nennen, die 1991 unter dem Titel Le pauvre musicien im Verlag Jacqueline Chambon (Nîmes) erschien. J. Lajarrige übersetzte auch Hans Carl Artmann (eine Auswahl von Gedichten, erschienen in Austriaca Nr. 27, S. 153–161, Le message viride. 90 rêves, 1991, auch bei Jacqueline Chambon, sowie Le Soleil était un œuf vert im Verlag Grèges, Montpellier, 2011), Friederike Mayröcker (ziemlich Gedichtkopfkissen / presque oreiller-poème. Paris/Mainz: Despalles 1994), Milo Dor (Mitteleuropa. Mythe ou réalité ? Paris: Fayard 1999) – siehe auch Lajarrige 2004 –, Vienne et moi von Günter Brus, einer wichtigen Figur des Wiener Aktionismus (Nancy: Absalon 2009), Evelyn Schlag (L’Ordre divin des désirs. Paris: Métailié 2002) und vor allem Gregor von Rezzori: Le cygne und Murmures d’un vieillard (Paris-Monaco: Éditions du Rocher 2006 und 2008), Les morts à leur place. Journal d’un tournage (Paris: Le serpent à plumes 2009), Une hermine à Tchernopol, mit Catherine Mazellier-Lajarrige (Paris: éditions de l’Olivier 2011).
Diese intensive Praxis der literarischen Übersetzung hat übrigens ihre pädagogische Fortsetzung in dem Buch Pratique de la version allemande gefunden, das ebenfalls mit Catherine Mazellier-Lajarrige bei den Presses universitaires du Midi (Toulouse) im Jahr 2015 veröffentlicht wurde.
Durch alle seine Aktivitäten (Forschung, Edition, Übersetzung) erscheint Jacques Lajarrige als ein bedeutender kultureller Vermittler zwischen Frankreich und Österreich und als ein unermüdlicher Förderer der österreichischen Literatur in Frankreich.
Quellen und externe Links
- ↑ vgl. insbesondere Lajarrige 2000
- ↑ vgl. Lajarrige 1996
- ↑ http://www.deutsche-biographie.de/118603930.html
- ↑ https://www.universalis.fr/encyclopedie/gunter-brus/
- ↑ https://www.deutsche-biographie.de/104594896.html
- ↑ http://www.deutsche-biographie.de/118811134.html
- ↑ https://www.deutsche-biographie.de/119559099.html
- ↑ https://www.universalis.fr/encyclopedie/christoph-ransmayr/
- ↑ https://www.engeler.de/pastior.html
- ↑ https://www.onb.ac.at/sammlungen/literaturarchiv/bestaende/personen/baecker-heimrad-1925-2003/
- ↑ Lajarrige 2001
- ↑ Lajarrige 2016
- ↑ Lajarrige 1997
- ↑ ebd.: 202
- ↑ Lajarrige 2006
- ↑ Lajarrige 2006–2007
- ↑ Lajarrige 2011
- ↑ Lajarrige 2021
- ↑ https://www.deutsche-biographie.de/pnd120739755.html
- ↑ https://www.deutsche-biographie.de/sfz65444.html
Bibliografie
- Benay, Jeanne und Lajarrige, Jacques (Hrsg.): Littérature de voyage. Regards autrichiens sur le monde, Austriaca no62 (2006).
- Lajarrige, Jacques: Des héritiers de la tradition aux héritiers de l’avant-garde. La poésie autrichienne depuis 1945. In: Dieter Hornig, Georg Jankovic und Klaus Zeyringer (Hrsg.): Continuités et ruptures dans la littérature autrichienne. Nîmes: Annales de l’Institut Cuturel Autrichien, Bd. I / Éditions Jacqueline Chambon 1996, S. 199–230.
- Lajarrige, Jacques (Hrsg.): La poésie autrichienne depuis 1945, Austriaca no45 (1997).
- Lajarrige, Jacques: Routes et déroutes exotiques dans la poésie de Hans Carl Artmann. In: Austriaca no45 (1997), S. 119–136.
- Lajarrige, Jacques (Hrsg.): Vom Gedicht zum Zyklus. Vom Zyklus zum Werk. Strategien der Kontinuität in der modernen und zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrik. Innsbruck et al.: Studienverlag 2000.
- Lecerf, Christine / Lajarrige, Jacques / Masson, Jean-Yves (Hrsg.): Littérature d’Autriche. In: Europe no866–867 (Juni-Juli 2001).
- Lajarrige, Jacques: « La citation au service de la mémoire. Nachschrift de Heimrad Bäcker » und « Exiger du sens. Où va la poésie autrichienne ? ». In: Littérature d’Autriche, ebd., S. 134–146 und 187–202.
- Lajarrige, Jacques (Hrsg.): Milo Dor – Budapest – Belgrad – Wien: Wege eines österreichischen Schriftstellers. Salzburg: Otto Müller 2004.
- Lajarrige, Jacques: Grillparzer, voyageur malgré lui. In: Austriaca no62 (2006), S. 85–111.
- Lajarrige, Jacques: Franz Grillparzer et la question des nationalités. In: Chroniques allemandes no11 (2006–2007), S. 127–145.
- Lajarrige, Jacques: Worin unterscheiden sich die österreichischen Dichter von den übrigen? Franz Grillparzer et l’historiographie littéraire en Autriche ». In: Le texte et l’idée no25 (2011), S. 93–117.
- Lajarrige, Jacques: Die Leiche im Keller. Les écrivains face au passé nazi de l’Autriche. In: Austriaca no82 (2016), S. 29–50.
- Lajarrige, Jacques: Trois portraits de Grillparzer : Hofmannsthal, Musil, Roth. Les enjeux politiques d’une postérité féconde. In: Anne Feler, Raymond Heitz und Roland Krebs (Hrsg.): Études sur le monde germanique. Littérature, civilisation, arts. Choix de conférences (2005–2020) organisées par la Société Goethe de France (Bd. II). Würzburg: Königshausen & Neumann 2021, S. 171–191.
Autor
Marc Lacheny
Onlinestellung: 01/02/2025