Gerald Stieg

Gerald Stieg, der am 25. Mai 1941 in Salzburg geboren wurde und „in einer Atmosphäre aufwuchs, in der Nationalsozialismus und Katholizismus eine explosive Mischung bildeten[1]“, ist ein österreichisch-französischer Germanist und Philologe, der durch seine wissenschaftliche und editorische Tätigkeit als Chefredakteur der Zeitschrift Austriaca eine wesentliche Rolle bei der Förderung der österreichischen Kultur und Literatur in Frankreich sowie beim Kulturaustausch zwischen Frankreich und Österreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt.
Biografische Angaben
Nach der Matura, die er 1959 am Stiftsgymnasium der Benediktiner in Admont, etwa eineinhalb Stunden von seinem kleinen Dorf Irdning in der Steiermark entfernt, ablegte, studierte G. Stieg Theologie, Philosophie, Altphilologie und Germanistik an den Universitäten Graz und Innsbruck. An der letztgenannten Universität unterrichtete er vier Jahre lang als Assistent, bevor er nach Frankreich zog, wo er als Lektor, Assistent, Oberassistent, Dozent und schließlich von 1988 bis 2009 als Professor für deutsche und österreichische Literatur und Landeskunde am Institut d’allemand d’Asnières (Universität Paris 3) tätig war. Nachdem er 1976 die agrégation d’allemand erhalten und seine von Pierre Bertaux betreute Dissertation den Wechselwirkungen zwischen dem Brenner und der Fackel[2] gewidmet hatte, habilitierte er sich neun Jahre später an der Universität Nancy (Betreuer: Jean-Marie Valentin) mit einer innovativen Studie über Früchte des Feuers: Canetti, Doderer, Kraus und der Justizpalastbrand[3], die an der Schnittstelle zwischen Literatur und Landeskunde stand. Gegen Ende seiner akademischen Laufbahn leitete G. Stieg als Nachfolger von Hansgerd Schulte[4] das Institut d’allemand d’Asnières (2001–2005) und die Équipe d’accueil 182 („Centre de recherches sur les sociétés et cultures des pays de langue allemande aux XIXe, XXe et XXIe siècles“), sowie die École Doctorale 385 („Espace européen contemporain“).
Österreichische Lieblingsautoren und wissenschaftliche Betreuertätigkeit
Wenn man sich sowohl mit der Lehre[5] als auch mit den Forschungsarbeiten von Gerald Stieg[6] beschäftigt, stellt man sofort fest, dass er sich weitgehend auf Österreich konzentriert hat – nicht unbedingt als Selbstzweck, sondern eher als Zugang zu allgemeineren Fragestellungen der Literaturgeschichte, der Formen- und Gattungsforschung oder auch der Geistesgeschichte, die hier in einem breiten und undogmatischen Sinne verstanden wird. Unter dem Einfluss des Germanisten und Résistant Pierre Bertaux, der darauf abzielte, neben der Vorherrschaft der Literatur in der französischen Germanistik auch der Landeskunde den ihr gebührenden Platz einzuräumen, hat sich G. Stieg stets bemüht, die Verflechtung von Literatur und Landeskunde aufzuzeigen, wobei er die Analyse der Literatur in ihren historischen, sozialen und politischen Kontext stellte und so „cultural studies“ avant la lettre betrieb[7]).
Was aus G. Stiegs Publikationen am deutlichsten hervorgeht, ist die große Aufmerksamkeit, die er den bedeutenden Schriftstellern widmet: Canetti, Goethe, Kraus, Musil, Rilke und Trakl. Innerhalb dieser nicht vollständigen Liste nehmen Kraus und Canetti eine Schlüsselstellung ein: Gerald Stieg, der sich von dem nationalsozialistischen Denken losreissen musste, das auch das Denken seines Vaters war, welcher „hartnäckig seinem gefallenen Ideal treu blieb[8]“, entdeckte Dritte Walpurgisnacht und Die Blendung fast gleichzeitig, als er als Assistent an der Universität Innsbruck tätig war. Über Dritte Walpurgisnacht schreibt er rückblickend: „„Der Schock dieser Lektüre war unglaublich: Ich hielt die beste, tiefste, klarste Analyse des Nationalsozialismus in den Händen, die nicht nach der Katastrophe, sondern schon zu Beginn seiner Herrschaft verfasst wurde.[9]“ und betrachtet Canettis Werk als „eine Entdeckung, die sehr wichtige Konsequenzen für mich haben würde.[10]“ Der eminente Germanist Wendelin Schmidt-Dengler[11], sein Kollege und Freund an der Universität Wien, verlieh ihm den Ehrentitel „Canettologe“. G. Stieg leistete einen entscheidenden Beitrag zur Kenntnis von Kraus’ und Canettis Werk in Frankreich durch internationale Tagungen und Zeitschriftenausgaben, aber auch durch die Mitarbeit an Ausstellungen (wie der im Centre Pompidou 1986) oder Radiosendungen. Als Beispiele seien hier die Nummer 11 von Austriaca zu Ehren von Elias Canetti, die große Tagung „Elias Canetti (1905– 1994)“ in der Bibliothèque nationale de France (Austriaca Nr. 61, 2005), die Nummer 49 (1999) von Austriaca zur Aktualität von Karl Kraus oder auch die Nummer 35/36 („Les guerres de Karl Kraus“, 2006) der Zeitschrift Agone genannt, die das Ergebnis einer Tagung ist, die am Collège de France mit Jacques Bouveresse veranstaltet wurde.
Eine Priorität G. Stiegs war es immer, die Initiativen junger Forscher*innen zu fördern[12]. Wenn man die Liste der von G. Stieg betreuten Dissertationen liest[13], fällt einem der singuläre und zugleich mutige Charakter der behandelten Themen auf: Thematische Studien und Monographien sind zwar vertreten, doch werden sie oft unter ganz bestimmten Schwerpunkten (Politik, Poetik, Poetologie) angegangen und existieren neben Projekten, die Kulturräume, Autoren und Ansätze kombinieren. Die Vielfalt der daraus entstandenen Arbeiten zeugt sowohl von den Persönlichkeiten und Vorlieben der einzelnen Doktorand*innen, als auch von dem Vertrauen, das G. Stieg den Student*innen entgegenbrachte, die sich an ihn wandten. Hinter dieser Vielfalt lassen sich große Konstanten erkennen, wie die Fülle an komparatistischen oder genetischen Arbeiten, aber auch an Rezeptionsstudien. Darüber hinaus spiegelt der hohe Stellenwert, der den wichtigen Autor*innen (Musil, Canetti, Bachmann, Celan, Bernhard, Rilke) eingeräumt wird, eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Bedeutung der deutschsprachigen – und insbesondere der österreichischen – Literatur innerhalb der europäischen Tradition[14]. Um nur einen Eindruck vom Spektrum und von der Ausrichtung der Forschungsthemen der Doktorand*innen von G. Stieg zu vermitteln, genügen einige Beispiele: die „Aufzeichnungen“ von Elias Canetti / Canetti als Leser von Cervantes, Gogol und Stendhal / Religion in Canettis Denken; die Duineser Elegien / bildende Kunst und poetische Reflexion bei Rilke / Kafka, Rilke und Pessoa; Manès Sperber; Ingeborg Bachmann und Marguerite Duras; Robert Musil und die anthropologische Frage / der Status von Grenzüberschreitungen in Musils Werk; Ilse Aichinger; die Poetik von Franz Werfel; die Rezeption von Thomas Bernhard in der französischen Presse / Bernhard und Tschechow; Paul Celan und Anselm Kiefer / die Celan-Rezeption in Frankreich; die Rezeption der Psychoanalyse in den deutschsprachigen Literaturkreisen von 1900 bis 1930; die französische Rezeption von Peter Handke; die Rezeption des Werkes von Johann Nestroy durch Karl Kraus; die französischen Übersetzungen des Theaters von Elfriede Jelinek; die Sexualitätsdiskurse in Wien und Berlin (1900–1914). In dieser Liste, die die Forschungsschwerpunkte von G. Stieg widerspiegelt, dominieren eindeutig österreichische Autoren, allen voran Karl Kraus, Elias Canetti, Robert Musil und Rainer Maria Rilke, dessen poetische Werke G. Stieg in der „Bibliothèque de la Pléiade[15]“ herausgegeben hat. Zu diesen Autoren müssen das Wiener Vorstadttheater (Raimund und vor allem Nestroy) und landeskundliche Studien[16] hinzugefügt werden. Schließlich ist noch die Musik zu nennen, die G. Stiegs Lehre und Leben durchzieht: In Mozart „verwirklichte sich für mich eine einzigartige Verschmelzung der Volkskultur des Landes mit einer universellen Vision der Menschheit.[17]“ G. Stieg veröffentlichte außerdem in Le Monde de la musique vom 11. Oktober 1990 einen Text über das Streichquartett unter dem an Canetti gemahnenden Titel „Le cœur secret de l’Europe“ (Das Geheimherz Europas). Dieser Aufsatz, der das Ergebnis langer Reflexionen war, die auf seiner Zusammenarbeit mit Georges Zeisel[18], dem Gründer des Verbandes ProQuartet, beruhten, wurde im Jahr 2000 in dem Band Europes: de l’Antiquité au XXe siècle : anthologie critique et commentée, herausgegeben von Yves Hersant und Fabienne Durand-Bogaert (Paris: R. Laffont, „Bouquins“, 2000), neu veröffentlicht.
Ein kritischer Vermittler zwischen Österreich und Frankreich
Zusammen mit seinem Freund und Kollegen Felix Kreissler war Gerald Stieg 1975 eines der Gründungsmitglieder der Zeitschrift Austriaca. Cahiers universitaires d’information sur l’Autriche, deren Chefredakteur er (zusammen mit Gilbert Ravy) über zwanzig Jahre lang, von 1982 bis 2004, war, ehe er die Leitung der Zeitschrift an Jacques Lajarrige abgab. Neben seiner Tätigkeit als Chefredakteur der Zeitschrift gab G. Stieg allein oder zu zweit zehn Ausgaben heraus, die wiederum die Schwerpunkte seiner Forschungsarbeiten illustrieren, darunter zwei Nummern zu Canetti (Nr. 11, 61), zwei zu Kraus (Nr. 22, 49) und eine zu Georg Trakl (Nr. 65–66), sowie zahlreiche Aufsätze und Rezensionen zu seinen Forschungsschwerpunkten[19].
Die Arbeit, die Gerald Stieg für die Zeitschrift Austriaca leistete, ist zugleich Ausdruck und Spiegelbild eines unermüdlichen, aber nicht unkritischen Einsatzes als Vermittler zwischen Frankreich und Österreich. In der Tat schreckte G. Stieg nie davor zurück, kompromisslose politische Positionen zu vertreten. So bezog er öffentlich Stellung gegen Jörg Haider[20] und seinen rechtsextremen Populismus und er bekämpfte die Politik der ÖVP-FPÖ-Koalition im Jahre 2000, über der in seinen Augen „der Schatten des Nationalsozialismus und des Pangermanismus[21]“ schwebte, weshalb er für einige Zeit in offiziellen österreichischen Kreisen als Persona non grata galt. G. Stieg ging im Namen des Redaktionskomitees von Austriaca sogar so weit, dass er jegliche Verbindung mit den damaligen österreichischen Regierungsbehörden abbrach und jegliche Subvention des österreichischen Staates für Austriaca ablehnte. Die Ablehnung dieser Subventionen wird in einem Brief an die damalige österreichische Außenministerin Benita Ferrero-Waldner[22] vom 14. Mai 2000 deutlich begründet: „Diese Haltung wird für uns dadurch bestimmt, dass es moralisch nicht vertretbar ist, Geld von einem Spender anzunehmen, den man offen bekämpft. Dieser Akt ist nicht gegen Österreich gerichtet, ganz im Gegenteil, er will ein Symbol für politische und moralische Opposition sein[23]“. Und während der Kongress der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG) 2000 in Wien stattfand, also einige Monate nach der Bildung einer schwarz-blauen Koalitionsregierung, nahm G. Stieg zusammen mit Jacques Bouveresse, Jacques Le Rider und Heinz Wismann[24] an einer parallelen Protestaktion mit dem vielsagenden Titel „Die Germanistik, eine politische Wissenschaft?“ teil, die im Jüdischen Museum Wien veranstaltet wurde. Als G. Stieg schließlich im Jahr 2000 gemeinsam mit Felix Kreissler eine „Société franco-autrichienne“ (Französisch-Österreichische Gesellschaft) gründete, nahm er „an einem Kampf teil, dessen Ziel es war, die österreichische Kulturpolitik in Frankreich zu delegitimieren“, da er das Gefühl hatte, „dass die österreichische Regierung auf unverantwortliche Weise mit den Grundlagen der Republik und ihrem internationalen Kredit spielte.[25]“ Eine solche Stelle liefert ein Musterbeispiel für die intellektuelle Integrität von Gerald Stieg, der stets eine österreichische Identität unter der musikalischen Ägide von Mozart und der literarischen Ägide von Nestroy, Kraus, Canetti, Rilke und Trakl gegen die verhängnisvollen Auswirkungen der nationalsozialistischen und pangermanisten Vergangenheit Österreichs verteidigte.
Quellen und externe Links
- ↑ Stieg 2013: 24
- ↑ Stieg 1976
- ↑ Stieg 1989, 1990
- ↑ https://shs.cairn.info/revue-allemagne-d-aujourd-hui-2020-1-page-153?lang=fr
- ↑ Lacheny / Laplénie 2009
- ↑ Lacheny 2008
- ↑ Stieg 2013: 32
- ↑ Ebd.: 26
- ↑ Ebd.: 29
- ↑ Ebd.: 31
- ↑ https://shs.cairn.info/revue-etudes-germaniques-2010-2-page-161?lang=fr
- ↑ Ebd.: 243
- ↑ Lacheny 2009: 283–288
- ↑ Stieg / Valentin 1997
- ↑ Rilke 1997
- ↑ Lacheny 2008
- ↑ Stieg 2013: 30
- ↑ https://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb119296332
- ↑ Lacheny 2008
- ↑ https://biographien.ac.at/ID-184.6192681877674-1
- ↑ Stieg 2013: 35
- ↑ https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Benita_Ferrero-Waldner
- ↑ Abdruck des Briefes in: Austriaca Nr. 50, 2000: 9–11, hier: 10
- ↑ https://www.deutsche-biographie.de/141838035.html
- ↑ Stieg 2013: 36
Bibliografie
- Lacheny, Marc: Travaux et publications de Gerald Stieg. In: Kerstin Hausbei und Alain Lattard (Hrsg.): Identité(s) multiple(s). Paris: Presses Sorbonne Nouvelle 2008, S. 249–264.
- Lacheny, Marc und Laplénie, Jean-François (Hrsg.): « Au nom de Goethe ! » Hommage à Gerald Stieg. Paris: L’Harmattan 2009.
- Lacheny, Marc: Travaux de recherche dirigés par Gerald Stieg. In: Marc Lacheny et Jean-François Laplénie (Hrsg.): « Au nom de Goethe ! » Hommage à Gerald Stieg. Paris: L’Harmattan 2009, S. 283–288.
- Rilke, Rainer Maria: Œuvres poétiques, hrsg. von Gerald Stieg. Paris: Gallimard 1997.
- Stieg, Gerald: Der Brenner und die Fackel. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte von Karl Kraus. Salzburg: Otto Müller 1976.
- Stieg, Gerald: « Fruits du feu ». L’incendie du Palais de justice de Vienne en 1927 et ses conséquences dans la littérature autrichienne. Rouen: PURH 1989.
- Stieg, Gerald: Frucht des Feuers. Canetti, Doderer, Kraus und der Justizpalastbrand. Wien: Edition Falter im ÖBV 1990.
- Stieg, Gerald und Valentin, Jean-Marie (Hrsg.): „Ein Dichter braucht Ahnen“. Elias Canetti und die europäische Tradition. Bern: Peter Lang 1997.
- Stieg, Gerald: L’Autriche : une nation chimérique ? Cabris: Sulliver 2013.
- Stieg, Gerald: Sein oder Schein. Die Österreich-Idee von Maria Theresia bis zum Anschluss. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2016.
Autor
Marc Lacheny
Onlinestellung: 01/02/2025