Jacques Le Rider

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Jacques Le Rider photographié par Jérôme Panconi

Jacques Le Rider (geboren am 20. Februar 1954 in Athen) war bis zu seiner Emeritierung 2023 Directeur d’études an der École pratique des hautes études (Paris). Er war Schüler der ENS (Ulm) von 1973–1977. Nach der Agrégation (1976) wurde er Assistent an der Universität Paris IV-Sorbonne, wo er 1982 promovierte. Von 1981 bis 1990 war er Maître de conférences an der Universität Paris XII (Créteil). Nach seiner Habilitation an der Universität Paris IV-Sorbonne im Jahr 1989 wurde er 1990 Professor an der Universität Paris VIII (Vincennes – Saint-Denis). 1999 wechselte er als Directeur de recherches an die École Pratique des Hautes Études (EPHE). Von 1983–1986 leitete er das deutsch-französische Kulturinstitut in Tübingen, von 1994–1996 das Institut français in Wien. Seit 2015 ist er korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wiederholt war er als Gastprofessor an europäischen und amerikanischen Universitäten tätig.

Biografie

Die intellektuelle Biographie Jacques Le Riders ist fundamental von seiner Beziehung zu Österreich und Mitteleuropa geprägt. In seinem Nachruf auf Wendelin Schmidt-Dengler[1][2] sah er in diesem seinen Initiator: Unter seiner Leitung verfasste er eine Maîtrise über Heimito von Doderer, und durch ihn wurde er auf die unerhörte Wirkung Otto Weiningers[3] auf zentrale Themen der Wiener Moderne aufmerksam gemacht. Seine Doktorarbeit Le Cas Otto Weininger. Racines de l’antiféminisme et de l’antisémitisme[4] (deutsche Übersetzung: Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und Antisemitismus, 1985) war der Auseinandersetzung mit der radikalen Identitätsproblematik Weiningers und ihren verzweigten literarischen und politischen Auswirkungen gewidmet. Jacques Le Rider hat in den beiden Ausstellungskatalogen (Traum und Wirklichkeit, Wien 1985, und L’Apocalypse joyeuse, Paris 1986) den Beitrag über Weininger und Freud verfasst. Spuren des „Falls Otto Weininger“ finden sich sogar in den amerikanischen Identitäts- und Genderdiskussionen (z.B. „What Does a Jew Want“ von Daniel Boyarin, Discourse 19/2, 1997) und in dem postmodernen Roman Tomboy (1998) von Thomas Meinecke. Jacques Le Rider habilitierte sich 1989 an der Universität Paris IV-Sorbonne mit Modernité viennoise et crises de l’identité[5]. Drei Auflagen (Paris: PUF 1990, 1994, 2000) und die Übersetzungen ins Deutsche, Englische, Portugiesische, Rumänische und Russische zeugen von der unbestrittenen Stellung dieses Buches als Standardwerk über die Wiener Moderne. Der deutsche Titel Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität (Wien: ÖBV 1990) unterstreicht durch die Anspielung auf Freuds Zukunft einer Illusion die Verankerung im psychoanalytischen Umfeld. Le Rider hat selbst die „analytischen Kategorien“ dieser Arbeit, namentlich das „Dreieck männlich-weiblich-jüdisch[6]“, das er als „entscheidend für die Epoche“ sieht, auf Weiningers Geschlecht und Charakter zurückgeführt. Zu diesem Umfeld gehören auch seine Arbeiten und Übersetzungen zu Lou Andreas-Salomé und Otto Gross. Der Gesamtschau der Wiener Moderne hat Le Rider eine Reihe von monographischen Studien zu den zentralen Autoren Freud (Freud, de l’Acropole au Sinaï, 2002), Hofmannsthal (Hugo von Hofmannsthal. Historicisme et modernité, 1995), Schnitzler (Arthur Schnitzler ou la Belle Époque viennoise, 2003), Zweig, Mauthner (Fritz Mauthner : Scepticisme linguistique et modernité. Une biographie intellectuelle, 2012) und Kraus (Karl Kraus. Phare et brûlot de la modernité viennoise, 2018) folgen lassen. Dazu kamen Journaux intimes viennois (2000), Les Juifs viennois à la belle époque (1867-1914) (2013), La Censure à l’œuvre. Freud, Kraus, Schnitzler (2015) und das vielfach übersetzte Que-sais-je? La Mitteleuropa (1994).

Jacques Le Rider war auch ein aktives Mitglied des Redaktionskomitees der Zeitschrift Austriaca. Er war verantwortlich für die Nummern 21 (La psychanalyse), 35 (Günther Anders), 37 (Modernité de Hofmannsthal) und 48 (Adalbert Stifter). Seine institutionellen Erfahrungen schlugen sich nieder in „Ein Frühling, dem kein Sommer folgte“. Französisch-österreichische Kulturtransfers nach 1945 (Wien: Böhlau 1999, gemeinsam mit dem Wiener Historiker Thomas Angerer). Eine Sonderstellung nimmt L’Autriche de M. Haider. Un journal de l’année 2000 (Paris: PUF 2001) ein, eine sehr kritisch-persönliche Auseinandersetzung mit der Regierungsbeteiligung der FPÖ Jörg Haiders[7] im Jahr 2000. In den politischen Polemiken dieses Jahres sollte das Fach Germanistik eine unerwartete Rolle spielen, da der Kongress der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG) für September 2000 in Wien angesetzt war. Angesichts der Geschichte der IVG, die 1955 in Rom von Emigranten gegründet worden war, erhoben sich Bedenken gegen die Abhaltung des Kongresses in Wien bzw. die Beteiligung an ihm. Zu den schärfsten Gegnern des Kongresses gehörte Jacques Le Rider, aber auch der Wiener Germanist Wendelin Schmidt-Dengler, der das Gefühl hatte, „um (s)eine Lebensarbeit von dieser Regierung betrogen worden zu sein: Wien als Schauplatz der Germanistik zu etablieren“ (Germanistik – eine politische Wissenschaft: 59). In einem Brief an ihn bekennt Jacques Le Rider, dass ein guter Teil seines Lebens an Österreich gebunden war: „Depuis 25 ans, je consacre le meilleur de mon temps de recherche et d’enseignement à des sujets qui servent à ,la défense et à l’illustration’ de l’Autriche et de la métropole européenne que fut Vienne et que, j’espère, Vienne restera.[8]“ Den Kongress zu verhindern oder umzuorientieren gelang nicht, aber Christoph König[9], Experte der Geschichte der Germanistik, organisierte am Tag seiner Eröffnung, die ohne Vertreter des offiziellen Österreichs stattfand, im Jüdischen Museum eine Parallelaktion in Form eines kleinen, aber stark besuchten „Gegenkongresses“, an dem aus Frankreich Jacques Le Rider, Jacques Bouveresse, Heinz Wismann[10] und Gerald Stieg teilnahmen. Die Regierungskoalition ÖVP-FPÖ wurde nicht nur von Jacques Le Rider als intensiver politischer und kultureller Schock, ja als Tabubruch empfunden, doch er empfand ihn als Infragestellung seines persönlichen europäischen Kultur- und Politikideals und seines Engagements für die österreichische Kultur. Diese europäische Österreichidee wurde für ihn im Jahre 2000 „zynisch verhöhnt durch einen neuen Nationalpopulismus“ und ersetzt „durch einen provinzialistischen Chauvinismus[11]“. Trotzdem hat er keineswegs der Österreichforschung den Rücken gekehrt, aber seine Ernennung als Historiker an der École Pratique des Hautes Études (1999) auf dem Lehrstuhl „L’Europe et le monde germanique (époque moderne et contemporaine)“ hat seinem Horizont in Forschung und Lehre eine neue Dimension gegeben, wovon seine Arbeiten zu Goethe, zum deutschen Realismus[12] und zu europäischen Figuren wie Malwida von Meysenbug[13] oder Alexander Herzen Zeugnis ablegen. Nietzsche war schon früh eine Art Kontrapunkt zu Freud gewesen.

Le Riders Blick auf die Wiener Moderne galt nicht nur den großen Namen, sondern auch den Außenseitern. Symptomatisch dafür war die wiederholte Befassung mit Otto Weininger[14], der mit 23 Jahren Selbstmord beging, um sein Werk leben zu lassen. Weininger war gewissermaßen der „klinische Fall[15]“ für Le Riders theoretische Fundierung der Wiener Moderne. Ein anderer Außenseiter zeichnete sich ebenfalls durch „methodischen Wahnwitz[16]“ aus, der Sprachkritiker und radikale Sprachskeptiker Fritz Mauthner, dem Le Rider 2012 eine gewichtige Monographie gewidmet hat, begleitet von der Übersetzung des Essays Die Sprache (Le Langage. Paris: Bartillat 2012). Mauthners Anklage gegen die „Sphinx-Sprache“, die jegliche Erkenntnis und Wahrheit unmöglich mache, hat nicht nur auf Wittgenstein eingewirkt, sondern Spuren bei Hofmannsthal, Joyce und Beckett sowie im postmodernen Nihilismus hinterlassen. Mauthners monumentales Zerstörungswerk Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1901–1902) hat Teil an der für die österreichische Philosophie und Literatur kennzeichnenden zentralen Rolle der Sprache.

Es entsprach einer inneren Logik, dass Le Rider seine bisher letzte große Arbeit, Karl Kraus. Phare et brûlot de la modernité viennoise (2018), dem Antipoden Mauthners gewidmet hat, dem überzeugten Sprachgläubigen, der seit Der Fall Weininger in seinen Arbeiten gegenwärtig war. Die doppelte Metapher aus der Seefahrt (Leuchtturm und Brandschiff) symbolisiert schon im Titel die Ambivalenz der Figur in den Augen Le Riders. Sie findet einen parallelen Ausdruck in der Doppelübersetzung der Fackel als „Torche“ (zerstörendes Feuer) und „Flambeau“ (Licht der Aufklärung). Kraus hat diese Mehrdeutigkeit selbst immer wieder als Recht auf seinen „Widerspruch“ formuliert und reklamiert. Am deutlichsten ist dieser Widerspruch in der Frage der jüdischen Identität, verkörpert in Kraus’ Haltung in der Dreyfus-Affäre, aber auch in seiner satirischen Abrechnung mit der Wiener Moderne und Herzls Zionismus. Diese Ambivalenz ist das Salz des Buches, das einen festen Platz unter den großen Monographien (Edward Timms und Jens Malte Fischer) über den „Erzsatiriker“ einnimmt. 2022 und 2024 hat Le Rider seine umfassende Kenntnis der Wiener Moderne um die Übersetzung zweier Novellen Ferdinand von Saars bereichert, eines Realisten, der von der Wiener Moderne als Vorbild angesehen wurde.

Jacques Le Rider hat selbst von sich gesagt „Je suis né européen[17]“. In seinem Europa kommt Österreich eine zentrale Rolle zu.

Quellen und externe Links

Bibliografie

  • Der Europäer (Basel), Jg. 16, Oktober 2016. Interview mit Jacques Le Rider.
  • Germanistik – eine politische Wissenschaft. Ein Kolloquium im Jüdischen Museum Wien am 11. September 2000 (= Mitteilungen des Marbacher Arbeitskreises für Geschichte der Germanistik, Doppelheft 21/22, 2002).
  • Le Rider, Jacques: Le Cas Otto Weininger. Racines de l’antiféminisme et de l’antisémitisme. Paris: PUF 1982.
  • Le Rider, Jacques: La Mitteleuropa. Paris: PUF (Que sais-je?) 1994.
  • Le Rider Jacques: Modernité viennoise et crises de l’identité. Paris: PUF 1994, 2000.
  • Le Rider Jacques: Hugo von Hofmannsthal. Historicisme et modernité. Paris: PUF 1995.
  • Le Rider Jacques: Journaux intimes viennois. Paris: PUF 2000.
  • Le Rider Jacques: L’Autriche de M. Haider. Un journal de l’année 2000. Paris: PUF 2001.
  • Le Rider Jacques: Freud, de l’Acropole au Sinaï. Le retour à l’antique de la modernité viennoise. Paris: PUF 2002.
  • Le Rider, Jacques: Arthur Schnitzler ou la Belle Époque viennoise. Paris: Belin 2003.
  • Le Rider, Jacques: Malwida von Meysenbug. Une Européenne du XIXe siècle. Paris: Bartillat 2005.
  • Le Rider, Jacques: L’Allemagne au temps du réalisme. De l’espoir au désenchantement (1848-1890). Paris: Albin Michel 2008.
  • Le Rider, Jacques: Fritz Mauthner : Scepticisme linguistique et modernité. Une biographie intellectuelle. Paris: Bartillat 2012.
  • Le Rider, Jacques: Les Juifs viennois à la belle époque (1867-1914). Paris: Albin Michel 2013.
  • Le Rider, Jacques: La Censure à l’œuvre. Freud, Kraus, Schnitzler. Paris: Hermann 2015.
  • Le Rider, Jacques: Karl Kraus. Phare et brûlot de la modernité viennoise. Paris: Le Seuil 2018.

Autor

Gerald Stieg

Onlinestellung: 28/01/2025